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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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habe Frau Zehmann die Opiate selbst verabreicht. Die jüngste der drei Töchter habe sich ziemlich hysterisch gebärdet, als es dann so weit gewesen sei, das habe alle ein wenig überrascht, aber man wisse im Grunde nie, wie Angehörige am Ende reagieren, selbst wenn ein Krankheitsverlauf über viele Jahre gehe. Gabriele Zehmann hatte an einer seltenen, autoimmunologisch bedingten Lungenfibrose gelitten und war auf Grund ihrer Allgemeinverfassung für eine Organtransplantation nicht mehr in Frage gekommen, obwohl sie kaum sechzig Jahre alt gewesen war. Sie hatte das offenbar rascher akzeptiert als ihre Familie und zu Horn, als er sich zuletzt einmal mit ihr vor den Fernseher gesetzt hatte, gesagt: Mir geht einfach früher die Luft aus als den anderen.
    Er dachte, dass Lili Brunner zwar erst knappe dreißig war, aber trotzdem schon jemand, auf den man sich auch beim Sterben verlassen konnte. Das war bemerkenswert und dass sie bei der Bewertung des Alltages und vor allem in Bezug auf Männer einen ziemlichen Vogel hatte, machte, wenn man das bedachte, gar nichts. Vielleicht kriege ich auch eine Multiple Sklerose, dachte er, eine raschere Verlaufsform als bei Jacqueline du Pré, und ich brauche bald eine Hospizstation. Er formte einen Schneeball und warf ihn gegen das Parkverbotsschild vor der Spitalszufahrt. Er traf den Rand.
    Auf K 1 wurde gefrühstückt. Magdalena stand mitten auf dem Gang beim Speisewagen, strich Marmeladebrote, mischte Müsli ab und schenkte Kakao ein. Die Kinder, die das Bett verlassen durften, kamen, holten sich, was sie wollten, und aßen am großen Tisch im Aufenthaltsraum. Alle steckten noch in den Pyjamas, manche liefen barfuß herum. Den Kleineren halfen zwei Schwesternschülerinnen, die selbst aussahen wie gerade erst fünfzehn. Horn hatte kurz das Bedürfnis, stehen zu bleiben und zuzusehen. Es fühlte sich ähnlich an wie der nach wie vor gelegentlich auftauchende Wunsch, das Älterwerden seiner Söhne aufzuhalten.
    In seinem Zimmer stand das Fenster offen und es war saukalt. Bianca, die Putzfrau, saß mit Sicherheit mit ihren Kolleginnen irgendwo beim Kaffee, hatte alles vergessen und, wenn man sie konfrontierte, nicht einmal die Idee von einem Schuldgefühl. Er drehte den Heizkörper hoch. Von Limnig, dem Chefarzt der Radiologie, hieß es, er habe ein Verhältnis mit einer der jüngeren Putzfrauen. Limnig war ein unspektakulär aussehender Mann, der außer über die Einsatzmöglichkeiten des Spiral-CTs am liebsten über angloamerikanische Literatur sprach, zum Beispiel über Faulkner, Updike oder Alice Munro. Beatrix Frömmel, die Leiterin der Röntgenassistentinnen, hasste ihn seit dem Bekanntwerden der Putzfrauengeschichte, den anderen Leuten im Team war die Sache egal. Keiner von ihnen las Faulkner oder Alice Munro, da war Horn sicher. Er überlegte, wie Irene reagieren würde, hätte er ein Verhältnis mit einer Putzfrau und sie käme drauf. Er fand keine Antwort.
    Während der Morgenbesprechung wurde lang und breit über das Euthanasiegesetz diskutiert, das am Vortag mit den Stimmen der WP und der Nationalisten beschlossen worden war. Lili Brunner war extrem aufgebracht, hatte Tränen in den Augen und betonte immer wieder, sie werde mit Sicherheit kein Vollzugsorgan einer wirtschaftsfaschistoiden Nützlichkeitsideologie sein. »Bei uns wird nichts dergleichen passieren«, versuchte Leithner sie zu beruhigen.
    »Die Leute werden kommen und es haben wollen«, sagte sie.
    »Dann werden Sie sagen: Nein, so etwas machen wir hier nicht.«
    »Sie werden kommen und sagen: Worauf warten Sie noch, machen Sie doch endlich Schluss!«
    »Dann werden diese Leute woanders hingehen müssen.«
    Das sage sich so leicht, sagte sie – man begleite die Menschen bis ans Ende und zum Sterben solle man sie dann wegschicken? »Entweder oder«, sagte Cejpek. Ihm ging die Diskussion sichtlich auf die Nerven. »Was soll das heißen: Entweder oder?«, fragte Lili Brunner.
    »Entweder man tut es selbst oder die Leute gehen in die Schweiz, nach Ungarn oder in die Niederlande.«
    »Die Leute gehen nirgendwohin, wenn man sie ordentlich behandelt.«
    Sie diskutierten über die Möglichkeit einer verbindlichen Ethik in der Medizin, über das Einspruchsrecht von Angehörigen und über jene Form der Sterbehilfe, die para legem sowieso ständig praktiziert wurde. Horn merkte, wie wenig ihn das Thema interessierte, wie er noch dachte: Hoffentlich schlafe ich nicht ein und hoffentlich spreche ich nicht laut vor mich

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