Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
Eiszeit nahm das Schuljahr seinen gewohnten Lauf. Morgens drückten die Mädchen die Schulbank und paukten Geschichte, Magikalische Physik oder Naturkreisläufe, mehr oder minder erfolgreich. Berry war die einzige aus Zimmer 773, die konstant gute Noten schrieb und regelmäßig von den Lehrern gelobt wurde. Sie machte immer ihre Hausaufgaben und ließ andere Schüler bereitwillig abschreiben, ein Service, auf den Lisandra zähneknirschend verzichtete. Wenn Berry morgens nach dem Frühstück von ihren Klassenkameraden umringt wurde mit der Bitte, ihnen ihre Schulhefte auszuleihen, tat sie dies ohne sichtlichen Stolz oder Genugtuung. Sie verteilte fast emotionslos den Inhalt ihrer Schultasche und bekam ihn mit Flecken und Eselsohren vor jeder Stunde zurück. Und wenn mal eins ihrer Hefte verloren ging, weil es aus Versehen im Kanal landete oder von zwei Streithähnen im Eifer des Gefechts entzweigerissen wurde, regte sie sich nicht auf, sondern schrieb ein neues Heft voll. Das brachte ihr den Respekt der ganzen Klasse ein – nur nicht den ihrer Zimmergenossinnen.
Thuna glänzte in allen Fächern, die kein Zaubertalent erforderten. Alles, was man durch Wissen, Lernen, Verstehen und Nachdenken erreichen konnte, stand ihr offen. Doch wie sollte sie magikalische Gleichungen aufstellen, wenn es da einen Faktor ɱ gab, den man nach Gefühl bestimmen musste? Thuna wusste theoretisch, dass man zu diesem Zweck den Gehalt an magikalischem Fluidum abhängig von Zeit, Ort, Raum und Persönlichkeit aus der Gegenwart herausfühlte und dann einer passenden Maßeinheit zuordnete. Doch wie sollte Thuna das anstellen, wenn sie magikalisches Fluidum einfach nicht wahrnehmen konnte? Sie sah es nicht, sie fühlte es nicht, sie hatte es nicht, es floss nicht in ihren Adern. Das war die traurige Wahrheit.
Ihre einzige Rettung – zumindest was den Unterricht betraf – war ihre Fähigkeit, in den Gedanken anderer Menschen zu schwimmen. Obwohl sie es normalerweise vermied, sich in fremde Köpfe einzuschmuggeln, machte sie in Magikalische Physik eine Ausnahme. Sie spionierte aus, wie ihre Mitschüler den Faktor ɱ ansetzten und wählte dann einen vergleichbaren Wert mit kleiner Abweichung. Ab und zu unternahm sie auch einen Ausflug in Krotan Westbarschs Geist, in dem es vor Zahlen und Formeln nur so wimmelte. Er musste in einer ganz eigenen, abstrakten Welt leben und Thuna beneidete ihn nicht darum.
Scarlett lernte wie eine Verrückte, ließ es sich aber nach Möglichkeit nicht anmerken. Sie wollte so viel wissen wie möglich, damit sie eines Tages, wenn sie mal wieder auf der Flucht wäre, besser zurechtkam als in den vier Jahren zwischen Waisenhaus und Sumpfloch. Darum legte sie einen Wissensdurst an den Tag, der mit Thunas vergleichbar war. Doch es war kein fröhlicher, neugieriger Wissensdurst wie bei ihrer Freundin, sondern er nährte sich von Furcht. Scarlett bemühte sich, nicht aufzufallen. Sie schrieb mittelmäßige Arbeiten, gab absichtlich falsche Antworten, wenn sie von Lehrern etwas gefragt wurde und strengte sich an, im Fach Naturkreisläufe besonders schlechte Leistungen zu erbringen. Viego Vandalez hatte ihr diese Strategie nahegelegt, damit er ihr Nachhilfestunden geben konnte. Natürlich dienten die Nachhilfestunden nicht dazu, Scarletts Noten zu verbessern, sondern ihr beizubringen, mit ihren bösen Zauberkräften besonnen umzugehen. Auf diese Weise hatte Scarlett gelernt, ihre Kräfte auf ungefährliche Weise zu entladen, wenn sie in ihr aufstiegen. Früher hatte sie unkontrolliert Schaden angerichtet, jetzt lenkte sie ihre Energie auf möglichst harmlose Ziele um. Das klappte immer besser, doch Viego war längst nicht zufrieden.
„Es reicht nicht, wenn es meistens klappt“, sagte er heute wieder und sah im winterlichen Zwielicht seines Arbeitszimmers zum Fürchten aus. „Es muss immer klappen. Du bekommst keine zweite Chance, wenn du dich einmal verrätst!“
Scarlett machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch er fuhr fort, bevor sie einen Ton herausgebracht hatte.
„Außerdem sehe ich Tag für Tag, wie deine Kräfte wachsen. Viel zu schnell wachsen sie. Du kommst gar nicht mehr mit! Du musst dafür sorgen, dass sie dich nicht überwältigen, indem du sie regelmäßig abbaust. Leider muss ich beobachten, dass du das schleifen lässt. Stattdessen treibst du dich mit lauter Jungs in der Festung herum und gibst ihnen Gelegenheit, dich zu enttarnen!“
Scarlett war erstaunt, dass er darüber Bescheid wusste.
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