Die Sumpfloch-Saga Bd. 3 - Nixengold und Finsterblau
und gefürchtet. Jetzt, nach Einbruch der Nacht, war Lisandra völlig orientierungslos. Wie sollte sie etwas suchen und finden, wenn sie nichts sehen konnte? Sie hatte keinen Plan, doch sie kämpfte sich trotzdem weiter durchs Gestrüpp. Sie wollte den Löwen finden. Unbedingt!
„Pollux!“, rief sie. „Pollux, du Mistvieh! Wo steckst du?“
Sie wusste nicht, wie lange sie sich so vorankämpfte. Vielleicht war der Mond schon aufgegangen, vielleicht auch nicht. Egal wie, Lisandra wollte nicht aufgeben. Es kam überhaupt nicht infrage, dass sie umkehrte und den Weg zurück zur Festung suchte. Sie musste sich etwas beweisen! Sie musste die Gewissheit erlangen, dass sie in der Lage wäre, das Aussichtslose zu schaffen. Wenn es ihr gelang, eine Situation, die vollkommen trostlos war, in ihr Gegenteil zu verkehren, dann könnte sie auch ihrem Schicksal trotzen – ganz egal, was es an Gemeinheiten für sie vorsah.
Doch sie fand den Löwen nicht.
Dafür fand der Löwe sie. Wieder einmal rief sie laut nach Pollux. Es war aber nicht der helle Pollux, der ihren Ruf vernahm, sondern der schwarze Bruder, der sehr hungrig war. Menschenfleisch war die bevorzugte Nahrung von ausgewachsenen Engelsdämonen. So ein zartes Mädchen, das alleine und hilflos in den bösen Wald gelaufen kam, war die ideale Beute für ihn. Der schwarze Löwe schlich sich an und dann, als es das Mädchen am wenigsten erwartete, warf er sich auf sie, schlug seine Krallen in ihr Fleisch und warf sie um.
Er hatte erwartet, dass das Mädchen zappelte und sich wehrte und dass er sie wie all die Kaninchen und Füchse, die er schon erlegt hatte, mit einem hungrigen Biss in die Kehle lustvoll zerreißen könnte. Doch diese Beute war anders. Statt sich zu wehren, hielt sie still, und statt zu kreischen und vor Schmerz aufzujaulen, fluchte sie. Noch während er sich darüber wunderte, was für ein komisches Mädchen das war, stach es ihm etwas zwischen die Rippen, das so schmerzhaft war, dass sein Körper von einem schrecklichen Krampf geschüttelt wurde.
Er konnte nicht zubeißen, die Kontrolle über seine Muskeln war ihm für einen Augenblick abhanden gekommen. Das Mädchen nutzte diesen Augenblick, um den Löwen von sich wegzustoßen oder es zumindest zu versuchen. Es klappte nicht, da er sich so fest in sie verkrallt hatte. Stattdessen kippten sie nur gemeinsam auf die Seite, doch dabei gelang es dem Mädchen, das Messer, das es immer noch in der rechten Hand hielt, im Löwen herumzudrehen, was ihm einen weiteren Schmerz durch den Körper jagte.
‚Jetzt oder nie!’, dachte Lisandra grimmig, obwohl sie merkte, dass sie blutete und schwer verwundet war. Sie stemmte sich gegen den Körper des Löwen, der sie umklammert hielt, packte den Messergriff mit beiden Händen und holte so weit aus, wie sie nur konnte. Sie konnte den Kopf des Löwen nicht sehen, hörte aber sein Röcheln, roch seinen tödlichen, trostlosen Atem und fühlte die Nässe seines Schnaubens.
Lisandra schloss die Augen. Alles, was sie hörte, roch und fühlte, setzte sie zu einem dreidimensionalen Bild zusammen und dann schlug sie zu. Sie führte das Messer mit aller Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, durch die massive Dunkelheit, die sie für die Kehle des Löwen hielt. An dem erstickten, gluckernden Geräusch, das seinem Rachen entfuhr, erkannte sie, dass sie ihn getroffen hatte. Der Löwe, blind vor Todeswut, packte das wehrhafte Ding, das er in seinen Klauen hielt, und warf es im hohen Bogen von sich fort. Doch es war zu spät. Die sterbliche Hülle des Dämons war tödlich verwundet. Der schwarze Körper sackte zu Boden und hauchte alles Leben aus. Seine verdammte Engelsseele aber kehrte an den Ort zurück, an den sie schon vor langer Zeit gebunden worden war, damit sie niemanden mehr heimsuchen und verschlingen konnte. Der Ausflug des Dämons ins Reich der Lebenden war vorüber.
Als der von Grohann angeführte Suchtrupp (dem auch Thuna und Rackiné angehörten) Lisandra fand, sah sie aus wie tot. Das Licht von Grohanns Laterne offenbarte ein blasses, blutverschmiertes Mädchen, das verrenkt im Dickicht hing, als habe sie ein Orkan dorthin geschleudert, ohne Rücksicht auf Verluste. Lisandra war aber nicht tot. Grohann hob sie auf seine Arme und brachte sie in einem ungehörigen Tempo nach Sumpfloch zurück und auf die Krankenstation. Estephaga stellte etliche Knochenbrüche fest, Fleischwunden, dazu Unterkühlung und einen Blutverlust, der das Mädchen eigentlich hätte
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