Die Sumpfloch-Saga Bd. 3 - Nixengold und Finsterblau
Löwe den Rest seines Lebens in einem Zoo verbringen musste und sie ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Aber sie musste es aushalten. Es gab ja keinen anderen Weg. Schon jetzt war Pollux zu groß, um in einer Schule zu leben. Aber er würde noch wachsen und noch viel stärker werden und eines Tages, das hatte Estephaga von einem Professor erfahren, würde Pollux nach einer Gefährtin Ausschau halten. Nach einem geflügelten Löwenmädchen. Spätestens dann würde er für alle Menschen, die in seiner Nähe lebten, zu einer großen Gefahr werden. Geflügelte Löwen auf Brautschau seien nämlich die reinste Naturkatastrophe, behauptete der Professor.
Thuna hatte so große Angst vor dem Abschied, dass es auch Pollux merkte. Er drückte sich immer wieder an sie und leckte ihre Hand. Er tat sogar etwas, das er noch nie getan hatte, und als es Thuna sah, brach es ihr fast das Herz: Er fraß sein Fressen nur zur Hälfte auf und schob ihr den Napf mit der anderen Hälfte hin. Das war typisch Pollux. Er glaubte, alle Sorgen dieser Welt könnten mit einer ordentlichen Mahlzeit aus geschredderten Vampirmäusen und frisch aufgeschlagenen Flugwurmeiern behoben werden. Thuna war sehr gerührt.
Die Zeit rückte unbarmherzig vor, die Sonne ging unter und die Nacht brach an. Ein letztes Mal rollte sich Thuna am Kopfende des Bettes zusammen und kuschelte sich dabei an den Löwen, dessen Tatzen aus dem Bett hingen, weil sie nicht mehr hineinpassten. So schlief sie ein, obwohl sie dachte, sie würde in dieser Nacht kein Auge zutun, und so lag sie auch noch, als sie mitten in der Nacht durch eine Berührung an der Schulter geweckt wurde.
„Thuna!“, sprach jemand zu ihr. Doch sie hörte keine Stimme. „Steh auf Thuna und komm mit!“
Die Stimme war ihr vertraut, zumindest im Halbschlaf glaubte sie, diese Stimme schön öfter gehört zu haben. Sie antwortete, ebenfalls ohne ihre Stimme zu benutzen:
„Ja, ich komme!“
Als sie dann aber richtig wach wurde, erschrak sie gewaltig. Der Steinbockmann, der in dem kleinen Dachzimmer besonders riesig aussah, beugte sich über sie. Sie sah den Kopf mit den mächtigen Hörnern in unmittelbarer Nähe und der starke Duft nach Tier und Zauber, der sie immer so verwirrte, bemächtigte sich ihrer Sinne. Wieder hörte sie eine Botschaft, ohne eine dazugehörige Stimme zu vernehmen.
„Komm jetzt“, lautete die Botschaft. „Und nimm den Löwen mit!“
Zu Thunas großer Erleichterung richtete sich der Steinbockmann auf – zumindest halb, denn ganz aufrichten konnte er sich in dem kleinen Dachzimmer nicht – und verließ das Zimmer, ohne ein Geräusch zu machen.
Thuna sprang aus dem Bett und zog sich an. Ihr kam gar nicht in den Sinn, die Aufforderung des Steinbockmanns infrage zu stellen. Es war wie in einem Traum, in dem einem die unlogischsten Dinge ganz einleuchtend erscheinen. Thuna zog ihre Jacke über und dann winkte sie dem Löwen, der ihr Tun die ganze Zeit beobachtet hatte. Ein bisschen schwerfällig, doch folgsam, verließ er mit ihr das Zimmer.
Grohann wartete im sechsten Stock auf Thuna (vermutlich, weil er sich hier ganz aufrichten konnte, ohne mit den Hörnern an die Decke zu stoßen). Pollux nahm die steile Stiege wie üblich mit einem einzigen, großen Sprung, was laut ‚Rumms!’ machte, doch niemand steckte seinen Kopf aus einem der angrenzenden Zimmer.
„Wohin gehen wir?“, fragte Thuna.
„In den Wald“, antwortete der Steinbockmann.
Er sagte es mit seiner normalen Stimme und Thuna zweifelte an ihrem Verstand. Hatte sie vorhin wirklich geglaubt, dass Grohann mit ihr redete, ohne seine Stimme zu benutzen?
Thuna fragte nicht nach, was Grohann im Wald tun wollte. Sie hatte diese Neigung, Grohann willenlos zu folgen. Ihre Vernunft meldete zwar leise an, dass das nicht klug war. Aber diese Nacht ähnelte so sehr einem Traum, dass Thuna schlafwandlerisch ihrem Herzen gehorchte und alle vernünftigen Gedanken außer Acht ließ. Sie störten nur. Thuna war auf einem Pfad unterwegs, der sie betörte. Sie wollte gerade nichts anderes tun als zu gehen und zu gehen und irgendwann anzukommen. Grohann führte, sie folgte.
Es war Neumond und obwohl die Sterne am Himmel standen, war es sehr dunkel. Steinbockmann, Thuna und Löwe wandelten wie Geister durch den stillen Schulgarten, durchquerten das Tor an der Grenze zum Wald und tauchten ein in die undurchdringlichen Schatten eines fremden Reiches. Es war Thunas Reich. Sie spürte es sofort, als sie die Grenze
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