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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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geboren worden, im TK-Krankenhaus.« Er nannte ein Datum im Mai und hielt ganz kurz inne, um Ninas Reaktion abzuwarten. Aber Nina konnte nicht anders, als den jungen Mann nur fassungslos anzustarren, der sich jetzthinunterbeugte, um eine Mappe aus seinem Rucksack hervorzuziehen. »Hier, ich habe die Bescheinigung dabei, es steht eine Adresse da drauf.« Er nannte die Adresse, noch bevor er das Dokument aus der Mappe geholt hatte.
    Und in dem Moment wusste Nina genau, wer dieser junge Mann war. Sie bebte am ganzen Körper, als sie kurz und knapp erklärte: »Sie irren sich.«
    Sein Blinzeln, diese Verzweiflung in seinen Augen, als er noch einmal in den Umschlag griff. »Aber ich habe noch mehr Hinweise auf unsere Verwandtschaft. Wenn Sie nur …«
    »Ich bin nicht, die Sie suchen.« Damit schloss sie die Tür und eilte mit klopfendem Herzen die Treppen hinauf.
    Eine Woche später bekam sie jenen Brief – eine »kurze Erläuterung«, wie der junge Mann es nannte –, in dem er sie um Erlaubnis bat, ihr noch einmal genauer erklären zu dürfen, was er meinte. Was hatte sie denn zu verlieren, fragte er arglos, wenn sie sich einfach kurz die Zeit nahm, sich anzusehen, was er ihr zeigen wollte? Aber das war natürlich undenkbar. Nachdem sie dem Ganzen endlich entkommen war, konnte sie sich doch nicht willentlich dorthin zurückversetzen. Nina hielt ein Streichholz an den Brief, zwei von Hand beschriebene Seiten übereinander, und sah zu, wie die Ecken des Papiers sich wellten, bevor sie Feuer fingen. Sie ließ die Blätter in die Spüle fallen, wo sie sich in eine braune, stetig schrumpfende, feuerspeiende Blüte verwandelten, dann in eine einzige große Flamme, bis schließlich nur brüchige graue Haut auf dem Grund des Beckens zurückblieb.
    Was Solodins letzten Brief anging, so hatte Nina ihn noch immer nicht beantwortet. Es war auch jetzt nicht mehr zu seinem Ansinnen zu sagen als: Gehen Sie, bitte, und lassen Sie mich in Ruhe. Diese fast körperlich spürbare Ungeduld in seinen Worten, dieses Verlangen nach Wissen – das genaue Gegenteil ihrer selbst. Vielleicht konnte Nina es ihm auf diesem Wege klarmachen, in allgemeingültigen Worten, nur nichts Persönliches:
Wie so viele meiner Landsleute habe ich nach Stalins Tod …
Oder:
Meine gesamte Generation, die ihr Leben lang mit einer Augenbinde …
Oder:
Wenn einem so viele Illusionen und Werthaltungen fortgenommen werden … Es ist mir einfach unerträglich.
    Nina hatte man damals die Augenbinde gewaltsam weggerissen. Dies schmerzhaft grelle Licht – warum sollte sie mehr davon wollen? Von der Wahrheit dieses gar nicht mehr so jungen Mannes? Nina wusste genug von seiner verworrenen Geschichte; es gab keinen Grund, ihn zu Ende anzuhören. Sie wurde so schon von so vielen Erinnerungen gequält, und täglich wurden es mehr, lebensechte, farbige Bilder, als sei sie wieder dort und säße nicht im Rollstuhl am zugigen Fenster, mit ihrem Wollkleid, der baumwollenen Strumpfhose und den flauschigen Hausschuhen von L.L.Bean. Sie seufzte. Noch vor einem Jahr wäre sie um keinen Preis irgendjemandem in Pantoffeln gegenübergetreten. Sie waren aus violettem Fleece, und Tama hatte sie ihr vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt. Damals war Nina empört gewesen, weil sie für das standen, was Tama offenbar in ihr sah: eine alte Frau, die meistens kein robusteres Schuhwerk mehr brauchte.
    Wie aufs Stichwort begann ein kaltes Pochen in ihren Gelenken. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ. So ein Verrat, nachdem sie den Großteil ihres Lebens darauf verwandt hatte, ihren Körper zu stählen, durch ständiges Üben Verletzungen vorzubeugen. Ihr Leben war so sehr von Routinen geprägt gewesen, dass sie noch immer morgens um zehn das Gefühl hatte, sie müsste ihren Platz an der Ballettstange einnehmen. All die jahrelangen Bemühungen, gelenkig, stark und geschmeidig zu bleiben, hatten ihr am Ende rein gar nichts genützt.
    Am Ende. Das sagte sich so leicht, aber Nina sah sich noch lange nicht am Ende angekommen. Nein, sie hatte keineswegs das Gefühl, mit den Dingen abschließen zu können, nicht, solange ihr dieser Stachel im Fleisch saß, dieser Grigori Solodin. Immerhin durfte sie hoffen, dass die Auktion die Angelegenheit bereinigen würde. Und dann stand noch etwas Gutes bevor: Shepley hatte sich angekündigt. Zwei Monate musste sie sich noch gedulden, bis April, aber so weit war es ja nicht bis dahin – auch wenn der eisige Luftzug durch

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