Die Tänzerin im Schnee - Roman
die genauen Schmuckbezeichnungen, nach denen ich Ausschau halten müsste?«
»Oh, das könnten alle möglichen Begriffe sein, ›Bernsteintropfen-Ohrringe‹, ›Ohrgehänge aus Baltischem Bernstein‹, ›Cabochon mit Inkluse‹ …« Ihr Stift bewegte sich bereits, während sie sprach:
bedeckt … Goldbeschläge … Zargenfassung … ovale Fassung … 14-karätiges Gelbgold … 56 Zolotnik.
»Ich schreibe Ihnen am besten eineListe. Die kann ich Ihnen dann per E-Mail schicken. Aber wie gesagt, Sie sollen nicht meine Arbeit erledigen. Falls und sobald Sie etwas finden, werde ich natürlich sofort einen Übersetzer beauftragen.«
Grigori Solodin erwiderte: »Drew, wissen Sie, ich
bin
Übersetzer.«
»Wirklich?« Ihr Hirn arbeitete fieberhaft, um herauszufinden, ob sie das bereits wissen müsste.
»Nun, wahrscheinlich keiner, wie Sie ihn im Kopf haben. Ich bin Literaturübersetzer. Für russische Lyrik.«
»Oh! Ich liebe Gedichte.«
»Tatsächlich?« Seine Stimme klang wahrhaftig interessiert, als er fragte: »Welche Dichter mögen Sie?«
»Also, ich hatte Literatur nicht im Hauptfach, aber ich lese Gedichte wirklich gern. Ich habe im College einen Kurs besucht und habe noch alle Bücher davon. Ich mag Sylvia Plath und Howard Nemerov. Und Edna St. Vincent Millay. Und George Herbert und e. e. cummings. Oh, und ich liebe Shakespeare. Ich glaube, Pablo Neruda ist der Einzige, dessen Gedichte ich in einer Übersetzung besitze.« Ein Mann namens Jorge, mit dem sie in ihrem ersten Jahr in Boston ein paar Mal ausgegangen war, hatte ihr den Band gegeben.
»Eine vorzügliche Auswahl.«
»Nicht besonders originell, fürchte ich.«
»Na und? Was zählt, ist doch, dass es Sie berührt.«
»Das sollte ich mir jedes Mal ins Gedächtnis rufen, wenn ich wieder denke, ich müsste endlich einen etwas anspruchsvolleren Geschmack entwickeln.«
»Wer hat Ihnen denn
diesen
Floh ins Ohr gesetzt? Allein die Tatsache, dass Sie lesen, Drew – dass Sie aus freien Stücken ein Buch aufschlagen. Und dann auch noch eins mit Gedichten!«
Sie lachte. »Mein Ex-Mann hat Gedichte geschrieben, als wir noch aufs College gingen. Aber er war voller Verachtung für alles, was wir dort beigebracht bekamen.« Sie erinnerte sich daran, wie sehr sie an ihn geglaubt hatte, und spürte jähes Bedauern, dass er so schnell und einfach seine literarischen Träume beerdigt hatte, als er seine erste Arbeitsstelle in der Kommunikationsabteilung eines Krankenhauses antrat. »Er hatte alle möglichen Theorien über Lyrik versus Prosa. Ich kann mich erinnern, wie entsetzt er war, als ich im gebeichtet habe, dass – O nein.«
»Was?«
»Wenn ich Ihnen das erzähle, dann beichte ich es Ihnen ja auch.«
»Bitte, beichten Sie.« Er klang, als würde er lächeln. In Gedanken sah Drew die drei Grübchen auf seiner Wange.
»In Ordnung. Ich würde ja auch gern wissen, was Sie als Übersetzer dazu sagen. Es ist nämlich so, dass ich zwar im Grunde alle Arten von Lyrik mag, aber bis heute am liebsten … Ach, das ist mir peinlich.«
»Sie machen es aber spannend.«
»Also gut, mir gefallen einfach Gedichte am besten, die sich … reimen.«
Grigori Solodin gab einen kurzen Freudenschrei von sich.
»Ich meine natürlich keine Grußkartenreime. Keine harten exakten Reime am Ende jedes Verses. Aber eben eine etwas deutlichere Anpassung des Klanges, verstehen Sie?«
»Ja, voll und ganz.«
»Ich habe nun einmal festgestellt, dass mir freie Verse nicht besonders liegen. Ich weiß oft nicht, was ich damit anfangen soll. Wenn es aber auch nur die vage Form eines Reims gibt, oder ein Versmaß, oder irgendwelche formalen Parameter, dann ist da zumindest etwas, das das Ganze für mich zusammenhält.«
Da ihr bewusst wurde, dass sie vielleicht schon viel zu lang über sich selbst gesprochen hatte, fügte Drew rasch hinzu: »Welche Dichter haben Sie denn übersetzt?«
Sie hörte ihn atmen. »Beruflich nur einen. Viktor Elsin, Nina Rewskajas Ehemann.«
Das war also die Verbindung. Obwohl sie Elsin in den biographischen Angaben im Katalog erwähnt hatte, wusste Drew nur wenig über ihn. Doch nun fand sie für ein übriggebliebenes Puzzleteil plötzlich den richtigen Platz und erkannte den Grund dafür, dass Grigori Solodin einen Anhänger besaß, der mit Nina Rewskajas Sammlung verbunden war. Es musste mit ihrem Ehemann zusammenhängen, dessen Arbeit er übersetzt hatte; vielleicht sammelte Grigori Solodin Erinnerungsstücke des Dichters. Aber wenn dem so war, wieso
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