Die Tänzerin im Schnee - Roman
den Wimpern.
»Ich weiß, was in dir vorgeht«, behauptet Madame, und ihre Stimme wird plötzlich ganz sanft. »Ich weiß, wie es ist, den zu verlieren, den man am meisten liebt. Ich habe meinen Ehemann verloren. Mir ist alles genommen worden.«
Vera sieht so zerbrechlich aus mit ihren schmalen Schultern und ihrem traurig nach unten gebeugten Hals … Nina setzt sich zu ihr, umarmt sie und verspricht, dass alles gut werden wird. Auf einmal sieht auch Madame aus, als würde sie weinen. »Die hat er mir gegeben«, erklärt sie schniefend und zeigt auf die kurze Kette mit den dicken Perlen an ihrem Hals, die sie immer trägt. »Sie kommen aus Japan und stammen von Austern aus dem Meer.« Sie hebt sie an, und Nina erkennt, dass das Band langsam verrottet. Ein paar der Perlen sind schon verrutscht.
»Sie sollten sie neu aufziehen lassen«, empfiehlt Nina. »Ich kann jemanden finden –«
»Ich werde sie nicht abnehmen. Perlen müssen getragen werden, sonst verlieren sie ihre Farbe.« Sie reckt stolz das Kinn. »Ich ziehe sie niemals aus.«
Nina lässt nicht locker: »Aber es sieht aus, als könnten Sie jederzeit Perlen verlieren – sehen Sie?« Sie streckt ihre Hand nach der Stelle aus, an der das Band sichtbar beschädigt ist, doch Madame reißt die Arme in die Luft.
»NICHT mein Haar berühren.«
»S’il vous plait!«
, kreischt Lola aus dem Schlafzimmer.
Nina zieht ihre Hand zurück und schaut Vera, um Unterstützung bittend, an. Doch diese weint immer noch und wischt sich verzweifeltdie Tränen weg. Ihre langen, geschmeidigen, blassen Hände machen dabei kleine, schnelle Bewegungen. »Petersburger Attitüden«, hätte ihre Großmutter dazu gesagt. Damit bezeichnete sie diese kleinen nervösen Handbewegungen oder auch ein hochmütiges Neigen des Kopfes. Madame sieht an Nina vorbei und richtet ihren Blick auf Vera, wobei sie die Augen zusammenkneift, als würde sie auf einmal etwas erkennen. Sie hält ihre Lorgnette hoch und blinzelt hindurch. »Du siehst aus wie Sonja.« Erneut kommen ihr die Tränen. »Der gleiche Teint. Hier, trink noch ein Tässchen Tee.«
In den kommenden Wochen begleitet Vera Nina oft im Anschluss an Proben oder Aufführungen nach Hause, um dort auf eine Nachricht von Viktor zu warten. Obwohl sich ihre Achillessehne erholt hat, tanzt Vera weniger als sonst, bis ihre Verletzung ganz verheilt ist. Den Rest ihrer Zeit (wenn sie nicht zum Schlafen in Mutters Wohnung ist) verbringt sie bei Nina, da Viktor oftmals unvorhergesehen Mitteilungen von Gersch überbringt. Vera kann nie wissen, wann Gersch Zoja plötzlich loswird und sie zu sich ruft. So lang spielt sie am Tisch mit Madame Karten oder nippt an ihrem Tee, während Madame in Erinnerungen schwelgt, ihr Tafelsilber zählt, die müde, langsame Darja herumkommandiert oder per Selbstdiagnose ermittelt, dass sie keinen Puls mehr hat. Vera scheint das alles kaum merkwürdig zu finden, aber Nina kann den Gedanken nicht abschütteln, dass es nun eine weitere Person gibt, die über Viktors Herkunft Bescheid weiß.
»Zoja soll heute Abend nach Katowo fahren, wo morgen eine Veranstaltung stattfindet«, erklärt Vera eines Nachmittags, als Nina sie zu Hause am Tisch mit Madame und der kreischenden Lola antrifft. Darja bemüht sich unterdessen in der Küche am anderen Ende des Flurs um einen freien Herd, auf dem sie das Abendessen kochen kann. »Viktor sagt mir Bescheid, wenn ich hinübergehen kann.«
Nina fragt sich, ob Vera ihren Status als »die andere Frau« mittlerweile vielleicht sogar ein wenig genießt.
Lola stupst mit dem Schnabel einen auf dem Tisch liegenden Gegenstand an. Nina tritt einen Schritt heran und erkennt, dass es sich um eine gerahmte Fotografie handelt. Darauf sind zwei Mädchen zu sehen, die einen jungen Mann in ihre Mitte genommen haben. »Das habe ich ja noch nie gesehen.«
Madame scheint nicht erfreut darüber, ihr Erinnerungsstück nun auch Nina zeigen zu müssen. »Das bin ich mit meinen Geschwistern«, erklärt sie. Dabei werden ihre Gesichtszüge weicher, ihre Muskeln entspannen sich. Der junge Mann ist anscheinend der Älteste; er ist groß und schlank und trägt auf dem Bild irgendeine Uniform. Die dunklen, mandelförmigen Augen des ebenso schlanken Mädchens auf seiner linken Seite sind nicht direkt in die Kamera gerichtet, während das Mädchen zu seiner Rechten dem Betrachter geradewegs entgegenschaut. Dabei sieht sie aus, als würde sie gleich lächeln. Bei näherem Hinsehen stellt Nina fest, dass diese
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