Die Tänzerin im Schnee - Roman
etwas in Richtung Archive oder Familienaufzeichnungen eingab, fand er dagegen alle möglichen Leute mit dem gesuchten Namen, die gar nichts mit der Sache zu tun hatten, und dabei leuchtete jedes Mal nervtötend ein neues Fenster über allen anderen auf, das in blinkenden Worten verkündete:
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Er klickte die Ecke des Fensters an, um es zu schließen, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Gedanken ihn zu dem Tag zurückführten, an dem er zum ersten Mal wirklich über den Begriff »Familiengeschichte« nachgedacht hatte. Damals war er noch ein Junge gewesen und gerade erst in Norwegen angekommen. Sein Lehrer hatte ihnen als Hausaufgabe aufgegeben, ihren eigenen Familienstammbaum aufzuschreiben. Grigori hatte sich zunächst voller Eifer ans Werk gemacht und einen nicht besonders echt aussehenden Baum gezeichnet, in den er alles eintrug, was er von Katja und Feodor über ihre Eltern und Großeltern, Geschwister, Onkel und Tanten in Erfahrung bringen konnte. Doch ihre Informationen – die genauen Details, nach denen er sich sehnte – waren nicht annähernd so vollständig, wie er gehofft hatte. Er fing wieder an, wie so oft, über seine anderen, seine leiblichen Eltern nachzudenken. Seine Adoption war ihm zwar nicht verheimlicht worden, doch wann immer Grigori mehr darüber erfahren wollte, wer diese anderen Leute gewesen waren, sagten seine Eltern nur, dass sie es nicht wussten.
Als er seine Mutter daher an diesem Abend zu ihren und Feodors Vorfahren befragte und die gewonnenen Informationen in seinen stümperhaft gezeichneten Stammbaum eintrug, hatte er das Gefühl, dass es sich dabei nur um eine Geschichte handelte, die in Wahrheitnicht viel mit ihm zu tun hatte. »Was ist los? Warum guckst du mich so an?«, fragte ihn Katja, und als Grigori ihr von seinem Gefühl erzählte – dass er sich nun einmal Fragen stellte und sich von seinem eigentlichen Stammbaum ausgeschlossen fühlte –, senkte sie die Lider und nickte entschlossen. Dann stand sie auf, ging ins Schlafzimmer und brachte von dort eine steife Kunststoffhandtasche mit. »Du bist jetzt ein großer Junge. Und eigentlich gehört sie ja ohnehin dir.« Sie fügte hinzu, dass sie die einzigen Informationen enthielt, die sie damals bekommen hatten: eine Urkunde des Krankenhauses, ein paar zu einem kleinen Bündel zusammengefaltete Briefe, zwei Fotografien in einer ansonsten leeren Brieftasche sowie ein wenig Krimskrams. Kein Ausweis. Kein Name. Dennoch war dies der Beweis für eine echte Frau, seine Mutter, die wirklich existiert und ihn auf die Welt gebracht hatte. Sie war eine Tänzerin gewesen, sagte Katja, eine Tänzerin beim Ballett – mehr hatte die Krankenschwester ihnen nicht sagen können. Abgesehen von der Tatsache, dass die Tänzerin (hier wurde Katjas Gesicht traurig, ihre Stimme ernst) die Geburt nicht überlebt hatte.
Als Nina am nächsten Tag vom Besuch bei Mutter nach Hause kommt, trifft sie dort Vera an, die am Holztisch sitzt. Ihr gegenüber trohnt Madame in ihrem mit Vogelmist beschmutzten Kleid und brummelt missbilligend vor sich hin.
»Die Männer heutzutage wissen einfach nicht, was sich gehört«, setzt sie an. »Keiner hält mehr einer Dame die Tür auf. Keiner hilft einem in den Mantel.« Sie schüttelt den Kopf, so dass ihr großer, vornehmer Haarknoten hin und her schaukelt und die kleinen Diamanten ihres Kamms aus Schildpatt kurz aufleuchten. Sie scheint Nina nicht zu bemerken. »Ein Land voller Rüpel. Kein Wunder, dass mein Herz aufgehört hat zu schlagen.«
Vera sieht dünner und blasser als gewöhnlich aus. Sie sieht auf, als Nina sie begrüßt, ohne dass Madame etwas davon mitbekommt. »Diese Frau kann dir doch nicht das Wasser reichen. Hier, Liebes, trink noch einen Schluck Tee.«
Sogar Viktors Mutter kann sich also Veras Anziehungskraft nicht entziehen.
Ein lautes, verzweifeltes Kreischen dringt aus Madames Kammer. Und dann, als wäre dem Vogel die Bedeutung seiner Worte bewusst:
»S’il vous-plait!«
Lola ist wütend, weil sie dort eingesperrt zurückgelassen wurde.
Erst in diesem Augenblick fragt sich Nina, ob Viktor etwas dagegen haben könnte, dass Vera Madame sieht, wie sie in ihrem zerschlissenen Kleid ihre aristokratische Vergangenheit zur Schau stellt. Vera sitzt jedoch unbeweglich da und scheint nichts um sich herum wirklich wahrzunehmen. Sie wischt sich ein paar Tränen von der Wange und klimpert dabei mit
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