Die Tänzerin im Schnee - Roman
»Ich bin es so leid. Ich bin das Ganze wirklich leid.«
Sie sind am Hotel angelangt. Vera hält Polina die Tür auf, während Nina in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch kramt, auf das sie schließlich ein paar Tropfen Eau de Cologne spritzt. Die Frau mit dem grauen Hut und Schal bleibt draußen stehen.
Vera hat Polina zu einem Sessel in der Empfangshalle geführt. »Mach die Augen zu und atme einmal tief durch«, empfiehlt Nina und legt Polina das Tuch auf die Stirn. »Alles wird gut.«
Erst nach vielen Stunden, während denen sie getanzt, geduscht und gegessen haben, und nachdem sie in ihre Zimmer zurückgekehrt sind, findet Nina einen Moment Zeit allein, um sich das Stückchen Papier in ihrer Tasche anzuschauen. Darauf steht in kleinen, aber deutlichen Buchstaben geschrieben:
Pässe, i.d. Udi 091434752
.
Den Rest des Jahres, in dem Grigori einundzwanzig wurde, hatte er sich fast ausschließlich mit Elsins Gedichten beschäftigt. Er befasste sich eingehend mit der Kunststofftasche und deren Inhalt, den Fotografien und Briefen. Der Anhänger blieb sein Geheimnis, von dem er niemandem erzählte. Er las alles, was er über Elsin und Rewskaja in die Finger bekam, und fügte wie ein Detektiv die einzelnen Puzzleteile zusammen. Doch es folgten einige Enttäuschungen: die ablehnende Reaktion des Segelohrs auf seinen Essay und – nach seinem vorsichtigen und schüchternen Annäherungsversuch – Nina Rewskajas wütende grüne Augen.
Seine Mühen waren dennoch nicht vergebens. Immerhin hatte er nun seinen Studienschwerpunkt gefunden; er wurde bald zum Experten für Viktor Elsins Gedichte im Kontext des Sozialistischen Realismus und bekam sogar ein Reisestipendium, das ihn zum ersten Mal nach Russland zurück führte. In Moskau suchte er mit Hilfe der Adresse und den wenigen anderen Informationen, die er der Krankenhausurkundeentnehmen konnte, nach irgendwelchen Dokumenten über seine Familie. Die Enttäuschung bei dieser vergeblichen Suche auf seiner ersten Reise übertraf alles, was er bis dahin erlebt hatte. Auch als er zwei Jahre später wieder dorthin reiste – diesmal als Begleiter eines studentischen Austauschprogramms –, um einen erneuten Versuch zu starten, erwies sich dieser als entsetzliche Tortur. Zuerst wartete er den ganzen Morgen darauf, dass die stämmige Dame in der Wohnbehörde beendete, was auch immer sie gerade tat, und ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte; als Grigori dann endlich erklären durfte, wonach er suchte, verkündete ihm die Dame, sie habe nun Mittagspause. Als Grigori bei ihrer Rückkehr mehrere Stunden später immer noch auf sie wartete, behauptete sie, alle Unterlagen, die sie eventuell für ihn ausmachen könnte, seien aus irgendeinem Grund nur zwischen neun und halb elf am Vormittag zugänglich. Also erschien Grigori am nächsten Tag zur angegebenen Zeit, nur um zu erfahren, die Dame sei an diesem Tag nicht im Büro, und da sie als Einzige Zugang zu den Wohnungsdokumenten habe, könne ihm niemand anderes weiterhelfen. Am dritten Tag kam er wieder und musste feststellen, dass das Amt plötzlich ohne Angabe von Gründen geschlossen hatte.
»Du siehst aus, als hättest du schlechte Laune«, stellte Evelyn gerade fest. Sie waren in Grigoris Audi unterwegs zu Roger und Hoanh Thomson, die beide Kollegen von der Universität waren. »Keine Angst, wir müssen nicht lange bleiben.«
»Tut mir leid, nein, es – ich habe mich nur gerade an etwas erinnert.«
Evelyn sah ihn mitfühlend an. Wahrscheinlich glaubte sie, er hätte an eine traurige Begebenheit mit Christine denken müssen. Seit dem Valentinstag hatte sie viel Geduld mit ihm gehabt, sie hatte sogar Wert darauf gelegt, ihm zu sagen, sie sei froh, dass sie »die Dinge langsam angehen« ließen. Grigori richtete sich auf und bemühte sich um einen fröhlichen Gesichtsausdruck. Es war ein kalter Samstagabend, der erste März, und sie waren auf dem Weg zur jährlichen Party zu Ehren des Weltfrauentags, zu der die Thomsons immer all ihre Kollegen einluden. (Eigentlich wurde der Weltfrauentag erst am achten gefeiert, doch in der nächsten Woche war Spring Break, und die meisten Gästewürden verreist sein.) Zu diesem Ereignis wurde Grigori jedes Jahr »mit Begleitung« eingeladen, nur weil sein Büro auf demselben Flur wie das von Hoanh lag, die Französisch und Vietnamesisch unterrichtete und sich stets provozierend nuttig kleidete. Sie war nicht gerade besonders hübsch (sie hatte unreine Haut, und ihre kleinen braunen Augen
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