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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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oben am Fenster glitt ein abgestorbenes Blatt herein, ein Überbleibsel aus dem Herbst, und landete lautlos auf der Fensterbank. Dort lag es wie ein geheimes Schreiben, altersgebräunt, und Nina sah es ein paar Minuten lang einfach nur an. Dann streckte sie eine Hand aus und befühlte mit kalten Fingern die trockene Zartheit der winzigen, rissigen Adern.
    Würde irgendjemand außer ihr je den Spalt über dem Fenster bemerken? Eine nicht unerhebliche Frage, fand Nina. Sie bekam kaum mehr Besuch. Cynthia war der einzige Mensch, der außer ihr noch Zeit in diesem Zimmer verbrachte: Wenn ihre Töpfe auf dem Herd standen und sie zu Nina rüberkam, um ihr eine neugierige Frage nach der anderen zu stellen. Die Putzfrauen – Mary und eine namenlose Truppe an Helferinnen, die alle drei Wochen laut und im Eiltempo durch ihre Wohnung fegten – leisteten alles andere als gründliche Arbeit und übersahen Details geflissentlich. Ganz abgesehen davon, dass sie bislang kein einziges Fenster geputzt hatten.
    Sonst gab es niemanden, der einen Grund gehabt hätte, das Zimmer zu betreten. Seit beinahe zehn Jahren hatte Nina keine Gäste mehr gehabt. Was Freundschaften in diesem letzten und längsten Lebensabschnitt anbetraf – richtige Freundschaften, enge Freundschaften –, so hatte sie niemals wirklich welche geschlossen. Natürlich hatte sie viele Bekannte und Ballettkolleginnen und -kollegen, doch keine Freunde wie in Paris und London. Niemanden, den sie so gern hatte wie ihre russische Freundin Tama damals oder wie ihren Schatz Inge, »das Berliner Mädel«, wie sie sie bis heute nannte, wenn sie an sie dachte. Gut, da gab es Shepley, den sie – so erstaunlich es manchmal klingen mochte – seit nunmehr vierzig Jahren kannte. Doch seit seinem Umzug nach Kalifornien fühlte sich Nina ihm nicht mehr so eng verbunden.
    Wie Veronica damals in England war auch Shepley ein Bewunderer gewesen, der nach und nach zu einem Freund geworden war. Als junger Anwalt und Ballettfanatiker hatte er sich auf sanfte, gemessene Weise in Ninas Leben geschlichen, indem er ihr kleine Geschenkegemacht und kluge Karten geschrieben hatte. Sein Interesse an ihr war zu keiner Zeit erdrückend gewesen oder hatte gar devote Züge angenommen, sondern war umsichtig und zurückhaltend. Selbst Nina – die, obwohl sie das erste Drittel ihres Lebens komplett hinter sich gelassen hatte, Fremden gegenüber einen gewissen Argwohn hegte – hatte ihn auf Anhieb gemocht. Wenn sie heute an ihn dachte, sah sie stets den dünnen, jungen Mann mit der ruhigen, jugendlichen Stimme vor sich und war daher jedes Mal entsetzt, wenn bei seinem alljährlichen Besuch ein grauhaariger Mann Mitte sechzig vor ihr stand.
    Als sich vor über zehn Jahren die ersten Symptome ihrer Krankheit gezeigt hatten, hatte ihr Shepley (der zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Liebe seines Lebens kennengelernt hatte) zur Seite gestanden, eine angenehme Mischung aus Neffe und Bedienstetem, der Nina zu ihren Arztterminen und Tests bei Spezialisten fuhr, sie regelmäßig besuchen kam und in seine Feiertagsplanung einbezog. Doch sein Umzug zu Robert an die Westküste lag nun schon acht Jahre zurück, und inzwischen hatte Nina sich an seine Abwesenheit gewöhnt. Nur manchmal vermisste sie ihn, meistens im Anschluss an einen seiner Besuche, bei denen er sie zum Tee ins Four Seasons und zum Einkaufen bei Saks im Prudential Center ausführte (auch wenn sie gar nichts brauchte und sich in der Öffentlichkeit immer verletzlich fühlte). In ihrer Wohnung bereitete er dann Braten zu, backte Kuchen und fror Sachen ein, die sie auf Monate hin satt machen würden, und hinterher hingen sein fröhliches Geplapper und seine Schauergeschichten noch tagelang in den Räumen – klebten in der Wohnung wie lustige Tapeten –, bis sie dann irgendwann verblassten.
    Neben Shepley war Tama, eine zehn Jahre jüngere russischstämmige Journalistin, die Nina seit 1970 kannte, die einzige Freundin, mit der sie regelmäßig in Kontakt stand. Tama rief oft aus Toronto an, meistens, um sich zu beklagen. Doch sie tat das auf eine liebenswerte Art, die Nina aufheiterte, und die Leichtigkeit, mit der sie in ihrer Muttersprache plauderte, war das reinste Vergnügen.
    Auch Shepley rief regelmäßig an, allerdings besorgt – Nina nahm an, um sich zu vergewissern, dass sie noch lebte. Sie vermutete, dass sie ein Fluch für ihn war. Nicht, dass er sich nicht aufrichtig um siesorgte, doch eben diese Sorge war es, die den Fluch darstellte,

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