Die Tänzerin im Schnee - Roman
kleinen Distanz, über die ärgerlicheren Seiten ihres Jobs schmunzeln konnte. Und tatsächlich erwies sich diese Strategie in vielerlei Lebenslagen als äußerst erfolgreich.
Sie warf einen Blick auf ihre Checkliste für den heutigen Tag, die flüchtig notierten und trügerisch wenigen Aufgaben. Ein paar davon würden Wochen in Anspruch nehmen. Was beispielsweise die Herkunft des Bernsteinsets betraf, so wusste Drew, dass derartige Dinge ihre Zeit dauerten. Und natürlich war der Katalog mit den sowjetischen Goldstempeln ausgerechnet jetzt irgendwo im Auktionshaus »verschollen«; Drew hatte ein anderes Exemplar aus einer Spezialbibliothek anfordern müssen. Zwar hatte Lenore gesagt, dass ein ungefähres Herstellungsdatum vollkommen ausreichend wäre, doch Drew hoffte, dass sich die Stempel auf eine bestimmte Serienfertigung zurückführen lassen würden. Vielleicht könnte sie dann mit Gewissheit sagen, dass der Anhänger Teil ein und desselben Sets war. Denn es ging doch nichts über das zufriedene Gefühl, eine harte Nuss zu knacken, etwas schier Unauffindbares zu entdecken – konkrete Aussagen machen zu können. Zu vieles auf der Welt blieb offen und ungeklärt.
»Ich habe gerade Nina Rewskaja über den Bernsteinanhänger informiert.«
»Gut, gut.« Und schon war Lenore im Begriff, sich abzuwenden. Ein verträumter, abwesender Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild in der Glasscheibe erhaschte. Wer wusste schon, ob sie Drews Antwort überhaupt gehört hatte? Und dennoch bewunderte Drew im Stillen Lenores Selbstsicherheit und Souveränität, saugte sie geradezu in sich auf. Sie sah ihr gern zu, wenn sie am Auktionspult stand, mochte die Art, wie sie die Situation unter Kontrolle hatte, wie sie redete, mit diesem leichten Akzent, der klang, als käme sie von einem Internat aus Übersee, undwie sie beinahe mit den Bietern flirtete, deren Interesse herauskitzelte und sie dazu brachte, mit nervös zuckender Hand ihr selbst gesetztes Limit zu überschreiten. »Ich bin schon sehr gespannt auf Ihren ersten Text für die Beilage.«
»Ich bin dran.« Drew hatte tatsächlich schon mit der Einleitung für den Prospekt begonnen, den sie zusätzlich zu den biografischen Angaben im Katalog erstellen würden. Sie schenkte ihr einen kleinen ironischen Gruß zum Abschied, und Lenore wirbelte hinaus.
Als Drew den Job vor vier Jahren angenommen – und Lenore sie »mein Lieutenant« getauft – hatte, war sie noch in den Zwanzigern gewesen. Doch inzwischen war sie zweiunddreißig, und wenn sie lächelte, zeigten sich Fältchen um ihre Augen. Vergangenen Monat war sogar etwas mit ihrer Stimme passiert: ein nicht wegzuleugnendes, wenn auch kaum hörbares brüchiges Geräusch, das von ganz hinten aus dem Hals kam – diese biologische Umstellung angesichts eines grässlichen neuen Reifegrads. Vor kurzem hatte sie das Mädchen hinter der Theke im Dunkin’ Donuts »Ma’am« genannt, woraufhin Drew schnurstracks zu Neiman Marcus marschiert war und sich ein Miniatur-Döschen jener Gesichtscreme gekauft hatte, auf die ihre beste Freundin Jen schwor, ein durchsichtiges, pappiges Zeug, das sie schlussendlich fünfundzwanzig Dollar gekostet hatte. Jen war in solchen Dingen äußerst bewandert. Vor ein paar Monaten hatte sie Drew eine nach Kaugummi riechende Creme in die Haare geschmiert, »damit deine Gesichtszüge weicher wirken«, ein Foto von ihr gemacht und – ohne Drew um Erlaubnis zu fragen – auf ihren Namen ein Profil in einer Partnerbörse im Internet angelegt.
Drew nahm es mit Humor – schließlich meinte Jen es nur gut und hatte auf diese Art ihren eigenen Verlobten kennengelernt – und hatte sich anschließend sogar ein paar Mal verabredet, wenngleich sie alles andere als auf der Suche nach einem Mann zum Heiraten war. Die eine Liebe, die sie erlebt hatte, war nur von kurzer Dauer und naiv, vielleicht sogar eine Selbsttäuschung gewesen. Und obwohl ihre Scheidung bereits vier Jahre zurücklag, hatte Drew erst in den letzten Monaten endlich damit begonnen, ihre Schuldgefühle zu überwinden. Nicht, dass es sich irgendwie besser anfühlte, was sie Eric angetan hatte. Doch sie wurde allmählich ungeduldig: mit ihrer Familie,die ihr selbst aus der Ferne weiterhin dieses dezent gehässige Mitleid entgegenbrachte, und mit sich selbst, weil sie sich nach all der Zeit immer noch dafür schämte, einen Fehler gemacht und jemanden verletzt zu haben, wo doch viele Menschen derartige
Weitere Kostenlose Bücher