Die Tänzerin im Schnee - Roman
eine Last auf seinen Schultern war, da es Nina natürlich nicht gutging und auch niemals wieder gutgehen würde – eine unwiderlegbare Tatsache. Allein der Umstand, dass sie noch lebte, stellte – rein logistisch gesehen – schon ein Problem dar, was Shepley schließlich dazu veranlasst hatte, einzuschreiten und Vereinbarungen mit Cynthia zu treffen. Und dennoch verspürte Nina nicht den Wunsch zu sterben. Sie stellte stets etwas mit ihrer Zeit an, hörte Radio und las Zeitung – sie hatte den »Globe« und die »London Times« abonniert – und wählte jeden Tag ein anderes Album aus ihrer Sammlung; Shepley hatte die Stereoanlage für sie aufgebaut und schickte regelmäßig neue Aufnahmen von Ninas Lieblingswerken. Heute war eine Neueinspielung von Brahms’ Streichsextetten an der Reihe. Wenn nur das Telefon nicht ständig klingeln würde. Nina ignorierte es weiter.
Nein, sie hatte kein Problem mit dem Alleinsein. Sie konnte lange Zeit einfach nur dasitzen und aus dem Fenster schauen, stundenlang BBC im öffentlichen Radio hören. Sie genoss ihre Privatsphäre, den damit verbundenen Platz und die Freiheit, genoss es, den Großteil des Tages vollkommen für sich zu sein. Ihr früheres Leben – ein einziges Teilen, kein Moment, kein Winkel, kein Regalbrett nur für sie allein – hatte sie begierig und auf alle Zeiten dankbar gemacht für die banalsten Dinge des Alleinseins: in ihrem Rollstuhl vom einen ins andere Zimmer zu rollen, ohne dass ihr irgendwer im Weg stand; nachts im Bett zu liegen und dabei nur vereinzelte Stimmen vom Gehweg oder gelegentliches Reifenquietschen von der Straße zu hören.
Die unlängst erfolgte Unterwanderung (als welche sie die Zeitungsartikel, das Auktionshaus und die Telefonanrufe der vergangenen Tage betrachtete) drohte diese Ruhe nun zu zerstören. Und dann die Erinnerungen, die mit dem Besuch dieses Mädchens Drew wachgerufen worden waren – derart lebhaft. Nina fühlte sich entkräftet. Selbst jetzt hatte sie das Gefühl, als würden die Erinnerungen sie belauern, als würde sich etwas Schreckliches an sie heranschleichen. Sie versuchte sich auf Brahms’ Streichsextett zu konzentrieren und schaute aus dem Fenster. Als das Telefon abermals klingelte, riss ihr der Geduldsfaden.
Sie rollte zu dem Marmortisch und nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Hallo, Miss Rewskaja, hier ist Drew Brooks, von Beller.«
Gegen ihren Willen fragte Nina: »Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut, danke – aufgeregt trifft es wohl besser. Es gibt unerwartete Entwicklungen.«
Nina stockte das Herz.
»Eine Person, die anonym zu wünschen bleibt, hat uns ein Schmuckstück gebracht, das zu Ihrem Bernsteinarmband und den Ohrringen zu passen scheint. Baltischer Bernstein mit Inklusen. Fassung und Stempel stimmen mit denen Ihrer kleinen Schmuckgarnitur überein. Der Besitzer behauptet, dass die Kette nicht nur selben Ursprungs ist, sondern dass sie zu Ihren Ohrringen und dem Armband gehört. Dass es sich um ein komplettes Set handelt.«
Nina bemerkte, dass sie den Atem anhielt.
»Miss Rewskaja?«
»Nina.«
»Nina, natürlich. Wir haben alle drei Stücke hier, und selbstverständlich werden wir die Echtheit des Anhängers prüfen lassen. Unsere Gutachter sind allerdings der Meinung, dass es sich aufgrund der Fassungen und Stempel der Hersteller tatsächlich um ein Set handeln könnte.«
»Ist Ihnen gar nicht in den Sinn gekommen, dass Ihre Gutachter sich irren könnten?«, fragte Nina langsam.
»Nun, natürlich, solche Gutachten sind immer eine Ermessensfrage, die Übergänge sind fließend, wie wir gern sagen. Ganz abgesehen davon, dass Verschlüsse und Ketten entfernt werden können – manchmal werden sogar die Steine in echten Fassungen ausgetauscht. Daher schicken wir das Stück ins Labor, um sicherzugehen, dass es sich auch wirklich um Baltischen Bernstein handelt. Doch wir wollten Sie informieren, für den Fall, dass Sie etwas darüber wissen. Der Besitzer des Anhängers würde diesen nämlich gern in die Auktion mit aufnehmen lassen. Als Schenkung. Es ist geradezu unglaublich.«
»Ich weiß nichts darüber. Ich besitze ein Bernsteinarmband mit passenden Ohrringen. Das ist alles. Sie sind äußerst selten.«
»Ja, nun, wir haben uns überlegt, ob die Kette vielleicht irgendwann einmal in Ihrem Besitz gewesen ist. Oder ob Sie eventuell wussten, dass sie fehlt?«
»Ich wusste nicht, dass irgendetwas fehlt. Ich besitze dieses Armband und diese Ohrringe seit 1952. Ich habe sie mitgenommen, als ich
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