Die Tänzerin im Schnee - Roman
wirklich jeden Tag spürte und dass ihm nach Christines Tod klargeworden war, wie bedeutsam diese Dinge waren, nicht nur die Familie, sondern auch die Liebe, menschliche Beziehungen – und dass die Zeit so kurz war und er diese Sachen hier besaß und Nina Rewskaja noch am Leben war. »Also habe ich ihr geschrieben. Ich habe ein Foto des Anhängers in den Briefumschlag gelegt. Denn es ist doch garantiert ein Unikat, und ich war sicher, dass sie es wiedererkennen würde, es konnte doch gar niemand anderem gehören. Wenn es denn tatsächlich Teil ihres Sets ist.«
»Und stattdessen hat sie beschlossen, ihren Schmuck loszuwerden. Jetzt verstehe ich«, sagte Drew und nickte langsam. Dann: »Es tut mir leid.«
Sie schien es ernst zu meinen. Grigori war gerührt. Aber da klopfte es an der Tür, und Evelyn beugte sich ins Zimmer. »Hey, du. Ein paar von uns wollen noch etwas trinken gehen –«
Drew sah auf und erkannte sichtlich, wer diese Frau war, während Evelyn weitersprach: »Oh, sorry, du hast eine Studentin bei dir. Klopf einfach kurz an meine Tür, wenn du hier fertig bist.«
Drew machte ein langes Gesicht. Evelyn hatte sich schon wieder abgewendet, ohne Drew zu erkennen, und die Tür hinter ihr halbgeöffnet gelassen. Mit dumpf schlagendem Herzen konnte Grigori Carla im Flur sagen hören: »Oh, Evelyn, wenn Sie diese Formulare schnell unterschreiben könnten …«
Grigori versuchte sich das Stirnrunzeln zu verkneifen. Aber plötzlich fühlte sich alles verkehrt an. Drew war aufgestanden und knöpfte ihren Mantel zu. »Darf ich die hier also mitnehmen?«, fragte sie mit Blick auf die Fotografien. Ihre Stimme war dabei nüchtern und geschäftsmäßig.
»Ja.« Grigori konnte ihr kaum in die Augen sehen.
»Ich meine, darf ich sie Nina Rewskaja zeigen?«
Grigori hörte sich antworten: »Das dürfen Sie.«
»Und die Briefe?«
Er nickte, während sie die Fotos in ihrer Tasche verstaute.
»Keine Sorge«, sagte sie, noch immer in sachlichem Tonfall, »ich werde ihr nichts aufzwingen. Ich möchte nur herausfinden, ob sie womöglich bereit dazu ist, sie sich anzusehen. Und vielleicht auch etwas dazu zu sagen.«
»Erwarten Sie nur nicht zu viel«, bat Grigori sie mit immer noch schwerem Herzen. »Sie hat ganz offensichtlich ihre Gründe dafür, dass sie sie nicht sehen will. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es einen Unterschied macht, wer sie darauf anspricht.« Drew stand direkt vor ihm. Nervös fügte er hinzu: »Wer weiß, vielleicht hat das alles ja auch gar nichts zu bedeuten.«
»Das glaube ich nicht.« Sie sah ihm direkt ins Gesicht, wie sie es auch getan hatte, als er ihre Hand hielt und ihre Wange berührte.
Er bedankte sich und streckte, fest entschlossen, nichts Unbesonnenes zu tun, energisch die Hand aus, um ihre zum Abschied zu schütteln.
Drew löste den Griff rasch und verabschiedete sich nach einem winzigen Moment des Zögerns. Sie war bereits auf dem Weg zur Tür. Grigori konnte Carla direkt davor hören, die Evelyn gerade fragte, bei welchem Friseur sie gewesen sei.
Da kehrte Drew um, und er sah in ihre großen dunklen Augen. Nach nur wenigen Schritten berührten sich ihre Körper. Grigori zog sie an sich, und als sie sich der Umarmung hingab, hörte er sich ein langgezogenes, peinliches »oh« flüstern.
Draußen im Flur hatte Evelyn gerade irgendetwas gesagt, das Carla zum Lachen brachte.
Schließlich trat Drew einen Schritt zurück, nickte kurz und eilte zur Tür hinaus.
Tage des Wartens, die Zeit so zäh und dickflüssig, dass man sie berühren kann. Nachdem Gersch in das Gefangenenlager abtransportiert worden ist, besuchen Viktor und Nina den anderen Flügel ihres Wohnhauses genau so oft wie zuvor, denn Zoja, die immer noch in Gerschs Wohnung lebt, könnte ja Neuigkeiten für sie haben.
Er wurde in ein psychiatrisches Rehabilitationslager gebracht, das nicht weit von Moskau entfernt ist – diesen Umstand führt Zoja auf ihre brieflichen Bemühungen für ihn zurück. »Ich halte sogar sehr viel von dieser Einrichtung«, teilt sie ihnen nach ihrem ersten Besuch dort mit. »Sehr fortschrittlich und so. Beeindruckend, wie es geführt wird.«
»Aber weshalb ist er in einem psychiatrischen Lager?«, will Nina wissen. »Das verstehe ich einfach nicht.«
»Oh, das hat mir der Direktor erklärt. Es ist nämlich so, dass sie in seinem Tagebuch ein paar Sachen gefunden haben, ihr wisst schon, über die französischen Impressionisten und Picasso und so. Aber es ist nicht schlimm, es war
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