Die Tänzerin im Schnee - Roman
brüllen und kreischen …
»Ach, wirklich?« Veras Tonfall ändert sich. »Tust du das wirklich?« Ihre Stimme wird ganz flach: »Aber du bist eine Ballerina, eine Berühmtheit. Wie solltest du denn nur die Zeit finden, dir um andere Leute Gedanken zu machen? Du bist doch die ganze Zeit so beschäftigt. So schwer beschäftigt, dass du nicht einmal mitbekommst, dass deine eigene Mutter … todkrank ist.«
Nina zuckt in der brennenden Luft zusammen: »Wovon redest du überhaupt?«
Ein langsamer, besorgter Seufzer: »Nina, sie ist krank. Der Arzt war bei ihr, kurz bevor ich gegangen bin.« Vera macht eine kurze Pause und scheint nachzudenken. »Wahrscheinlich ist es nur noch eine Sache von Monaten.«
»Von Monaten?« Nina ist nass geschwitzt und fühlt sich einer Ohnmacht nahe. »Hattest du vor, mir irgendwann einmal davon zu erzählen?« Und dann, als wäre es Veras Schuld, dass ihre Mutter krank ist: »Wieso hast du mir nichts gesagt?«
»Ich nahm an, du hättest bemerkt, wie schlecht es ihr geht. Ich dachte, dir wäre diese enorme Veränderung aufgefallen. Aber du musstest die ganze Zeit herumrennen und dich dann davon erholen und dabei immerzu nur über dich selbst nachdenken, so dass du kaum Zeit hattest, nach ihr zu sehen. Und selbst wenn du kamst, hast du nie richtig
hingesehen
.«
Nina hat zu zittern begonnen. Denn all das ist wahr. Sie sieht sie wirklich kaum noch, Mutter in ihrem Rock voller Blumen … »Ja, ich bin eine schlechte Tochter. Du bist die bessere.« Sie steht auf und gerät in der Hitze ins Taumeln. »Ich muss gehen.«
Vera erklärt: »Das wollte ich damit nicht sagen. Ich wollte nur –«
Die Luft brennt, als Nina sich auf den Weg zur Tür macht.
Draußen wickelt sie sich rasch in ein raues, steifes Handtuch. Im grünlich schimmernden Fluss zu ihren Füßen taucht eine Trauerweide in ihr eigenes Spiegelbild ein, während eine Schar Enten sich vorbeitreiben lässt. Nina hat das Gefühl, dass ihre Haut rot erglüht – vor Scham, denkt sie und eilt zurück zur Datscha. »Viktor!«
»Was ist los?«
»Ich muss nach Hause fahren. Sofort. Tut mir leid. Ich werde den Zug nehmen, wenn du mich zum Bahnhof bringst.« Auf ihrem Körper hat sich erneut Schweiß gebildet, den sie mit ihrem Handtuch zu fest abreibt und dabei die Haut an ihrem Arm zerkratzt.
»Nina, hör auf damit, du reibst dir die ganze Haut ab. Was ist denn passiert?«
»Mutter braucht meine Hilfe. Sie ist krank. Du kannst hierbleiben, bald weiß ich mehr. Aber ich muss gehen.«
Drew versuchte, den Korrekturbogen ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen, wurde aber immer wieder von ihrem klopfenden Herzen abgelenkt. Manchmal erwischte sie sich sogar dabei, wie sie den Kopf schüttelte, als könnte sie ihn so von allen anderen Gedanken befreien. Das Gewicht seines Körpers gegen ihren gepresst. Zwischendurch erschien es ihr immer wieder völlig unwahrscheinlich, dass sie das wirklich getan hatte, in seinen Arm gesunken, ja überhaupt so nah an ihn herangetreten war. Aber dann fiel ihr ein, wie gut es sich angefühlt hatte, einmal etwas zu tun, was sie sich so selten erlaubte – aus einem Gefühl heraus zu handeln.
Doch sie erinnerte sich schnell daran, dass sie gar keine Zeit für persönliche Angelegenheiten hatte, die sie von der Arbeit abhielten. Sie musste sich mit Miriam absprechen, die sich um die Ausstellungen kümmerte, die Presseabteilung auf dem Laufenden halten sowie ihre neue Assistentin mit kleineren Arbeitsaufträgen versorgen undhatte im Grunde für nichts anderes Zeit. Wenn sie nur endlich die Druckfahnen für die Katalogbeilage abzeichnen könnte, hätte sie einen Punkt weniger auf ihrer Liste. Die Druckerei würde dann fünfhundert Exemplare auf teurem, dickem Hochglanzpapier zurückschicken, die beim Dinner, das nächste Woche vor der Auktion stattfand, verteilt werden sollten, wo die geladenen Gäste sie gelangweilt und ohne große Aufmerksamkeit durchblättern würden, während sie die Reden und das Gläserklirren und all die anderen geplanten Aktivitäten über sich ergehen ließen. Danach würden die auf dickem, hochwertigem Papier gedruckten und in der Mitte gefalteten Beilagen zusammen mit den Essensresten in die Mülltonne wandern.
Eigenartig, wie wenig ihr all das im Augenblick bedeutete. Die Auktion oder der Schmuck oder der erneute Nachweis ihrer Fähigkeiten. Was zählte, war, dass sie etwas für Grigori herausfinden wollte.
Erst vor ein paar Stunden hatte Drew einen weiteren »Experten«
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