Die Tänzerin im Schnee - Roman
Nicht Nina Rewskajas Generation. Sie fand es interessant, vielleicht sogar auf eine gewisse Art verdächtig, dass Grigori Solodin nicht nur einen russischen Namen hatte und hier in Boston lebte, sondern sich, wie Nina Rewskaja, recht zugeknöpft zeigte, irgendetwas verschwieg.
Wenn Lenore das Gefühl hätte, dass hinter all dem mehr stecken könnte, würde sie sich dennoch keine Zeit dafür nehmen. Sie richtete ihr Augenmerk nicht auf die versteckten Details, sondern auf den äußeren Rahmen: eine erfolgreiche Auktion veranstalten, ein solides Geschäft abwickeln und einen gelungenen Auftritt bei der Versteigerung hinlegen.
Eigentlich hatte sich Drew anfangs nicht sonderlich für Schmuck interessiert. Sie hatte Kunstgeschichte im Hauptfach studiert, liebte Gemälde und Zeichnungen und hatte davon geträumt, Museumskuratorin zu werden. Nach ihrem Abschluss hatte sie in einer Galerie in Chelsea angefangen und ein Praktikum bei Sotheby’s gemacht, bevor sie eine bessere Stelle fand. Der Job bei Beller war schlicht der erste gewesen, den sie gefunden hatte, nachdem ihre Ehe gescheitert war und sie aus New York wegwollte. Auch ihre beruflichen Vorstellungen passte sie an und sah sich nunmehr als eine der künftigen Expertinnen der Fernsehsendung »Antiques Roadshow«, die einem Pärchen vergnügt mitteilte, dass das Aquarell, das es auf seinem Dachboden gefunden hatte, äußerst selten und wertvoll war. Ihre erste Chance auf Beförderung erhielt Drew fünf Monate später. So erfand sie sich ein weiteres Mal neu und begann, um Lenores Partnerin werden zu können, einen Fernkurs, in dem sie zur Gemmologin ausgebildet wurde.
Sie selbst trug nur ein einziges Schmuckstück. Es war ihr allererster Auktionsgewinn vor drei Jahren: ein Granatring, der aufgrund eines kleinen Risses im Stein keinen anderen Bieter gefunden hatte. Ein kleiner, rundgeschliffener Granat, eingefasst in winzige Krappen und auf einem Band aus Weißgold sitzend. Drew hatte ihn sich von dem Geld gekauft, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Sie trug ihn am rechten Ringfinger, als Erinnerung an Grandma Riitta, mit der sie in Gedanken auch heute noch manchmal sprach. Sie war die Einzigegewesen, die Drew keine Vorwürfe gemacht hatte, als diese ihre Ehe beendete. »Du hast dich weiterentwickelt, nicht wahr? Bist erwachsen geworden«, war alles, was sie dazu sagte, eines der letzten Dinge überhaupt, die sie zu Drew sprach, damit Drew wusste, dass sie sie verstand.
Drew erinnerte sich noch genau an die Stimme ihrer Großmutter, an ihren Akzent. Was jedoch allmählich verblasste, war die Erinnerung an die wenigen Worte, die Drew auf Finnisch konnte. Drews Mutter, die als Kleinkind nach Amerika gekommen war, hatte sich stets geweigert, ihrer eigenen Mutter in einer anderen Sprache als Englisch zu antworten. Und so hatte Drew in den vergangenen Jahren nicht nur Grandma Riitta, sondern noch dazu eine ganze Sprache verloren.
Drew blickte von dem Granat auf und las ihren bisherigen Text. »Prospekt: Geschichte und Einzelheiten zu den Schmuckstücken.« Wenigstens das hörte sich gut an.
Diese Vehemenz, mit der Nina Rewskaja bestritten hatte, dass der Bernsteinanhänger ihr gehören könnte; ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie und Grigori Solodin offenbar keinen Kontakt zueinander hatten. Oder jedenfalls so taten. Drew fragte sich, wie die Verbindung zwischen den beiden aussehen könnte – oder vielmehr die zwischen den drei Bernsteinschmuckstücken. Mit gründlicher Recherche und ein bisschen Glück, vermutete sie, könnte es ihr gelingen, es herauszufinden.
Beflügelt durch diesen Gedanken, legte Drew ihre Finger auf die Tastatur und begann zu tippen. »Diamonds are a girl’s best friend – für Nina Rewskaja allerdings –«
Drew hielt inne, wartete auf eine Eingebung und drückte die Löschtaste.
Es hatte erneut geschneit, weitere zehn Zentimeter. Im Morgenradio lief eine Erklärung von Bürgermeister Menino, der sagte, dass bereits jetzt, im Januar, das gesamte Jahresbudget für den Winterdienst ausgeschöpft sei. Die Höchsttemperaturen – frohlockte der Nachrichtensprecher – lägen heute bei plus zwei, die gefühlte Temperatur bei minus acht Grad.
Diese Amerikaner mussten immer erst die genaue Temperatur wissen, bevor sie sich entscheiden konnten, wie warm oder kalt sie es fanden. Grigori musste das wohl laut gesagt haben, denn als er die Küche betrat, war sie da wieder, diese ihm nur allzu vertraute,
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