Die Tänzerin im Schnee - Roman
»Zoltan, was soll ich nur nächstes Jahr hier ohne dich tun?«
»Genau dasselbe, was du jetzt auch machst«, antwortete Zoltan. »Heimlich Zigaretten in dein Büro schmuggeln und viel zu wenige Institutsversammlungen abhalten.«
Grigori lachte. Aber bei seinen nächsten Worten wurde er wieder ernst: »Wenn ich ehrlich sein soll, fühle ich mich der Universität zur Zeit irgendwie immer weniger verbunden. Weniger verpflichtet.« Er fragte sich, ob das etwas mit Drew zu tun hatte, damit, wie er sich in ihrer Gegenwart fühlte und wie bedeutungslos ihm so vieles andere in seinem Leben nun vorkam. Drews Arme um seinen Hals … Aber er musste trotzdem vorsichtig sein. Es wäre sicher zu viel für sie, er würde sie bestimmt nur verschrecken. Oder belasten. Warum soll ich ihr meine Geheimnisse aufbürden? Ich vermag mir wirklich kaum vorzustellen, weshalb sie sich in mich verliebt haben könnte, sie kennt mich doch kaum. Ich kenne sie kaum. Sie ist noch jung. Und ich, fünfzig Jahre alt!
Den ganzen Tag lang hatten sich seine Gedanken nun schon so im Kreis gedreht; er dachte mit einem leichten schlechten Gewissen anEvelyn und an die Erwartungen, die Christines Freunde und die Kollegen vom Institut an ihn stellten; es konnte doch gar nicht funktionieren, es war so unwahrscheinlich, und die Leute würden über ihn reden. Als Nächstes fragte er sich allerdings, warum er sich darum kümmerte, was die Leute
redeten
; Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, als über andere Leute herzuziehen …
Aber dann dachte er daran, was es ihn kosten würde, noch mal jemanden so gut kennenzulernen, wie er Christine gekannt hatte – diesen steilen Weg, den er emporklettern musste, um wieder einem Menschen so nahe zu kommen. Zoltan hatte recht, es galt wirklich alles oder nichts. Aber von hier aus »alles« zu erreichen, jemanden so vollständig zu kennen und zu lieben … Es erschien ihm unmöglich, wie brachten andere es nur fertig, ihr ganzes Selbst wieder und wieder einem anderen zu offenbaren?
Und doch wollte Grigori es nun zumindest versuchen.
Die Saison ist arbeitsreich wie immer, und Nina befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer tänzerischen Fähigkeiten. Der Tanz selbst ist nun ihr engster Verbündeter, da ihre Freundschaften Risse bekommen haben und die Stimmung in ihrer Ehe angespannt ist. Sie ist Vera den ganzen Winter aus dem Weg gegangen und hat stets den Blick schnell abgewendet, wenn sich ihre Wege auf dem Flur oder hinter der Bühne kreuzten, was selten genug vorkam. Dann ist Vera eine lange Weile beurlaubt gewesen, wieder wegen ihrer Achillessehne, die diesmal operiert werden musste, was sechs Wochen Ruhezeit nach sich zog.
Mittlerweile hat Nina ein paar kurze Tourneen nach Riga, Kiew und Minsk absolviert. Es ist Mai, die Luft ist mild, und die Blätter erstrahlen in einem hellen, gelblichen Grün. Viktor ist hinaus zur Datscha gefahren. Er hat erklärt, er müsse einmal aus der Stadt herauskommen, aber Nina weiß, dass es ihr gemeinsames Leben in dieser engen Unterkunft ist, dem er entfliehen will. Er hat seine Rückkehr sogar absichtlich so geplant, dass er erst wieder in Moskau sein wird, wenn Nina die Stadt verlassen hat – morgen wird sie zu einer weiteren Mini-Tournee des Bolschoi-Theaters aufbrechen, an der nur die »Stars« teilnehmen. Sie bezeichnen es als Tournee »im Schnelldurchlauf«, drei Theaterhäuser in drei Tagen.
Als die Nachbarin an der Tür klopft und mitteilt, am Telefon sei jemand für Viktor – jemand vom Krankenhaus –, denkt Nina also zunächst, dass ihm etwas zugestoßen ist. Sie braucht einen Augenblick, um die Frage der Stimme aus dem unförmigen schwarzen Apparat zu verstehen und ihr eine Antwort zu geben: »Tut mir leid, er ist nicht da. Er kommt erst nächste Woche zurück.«
»Ich rufe an, weil sein Name in Vera Borodinas Krankenakte als Notfallkontakt angegeben ist. Ihr geht es nicht gut. Wenn er sie besuchen kommen könnte –«
»Entschuldigung, aber ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«
»Vera Borodina ist bei uns, und wir befürchten, dass … sie sich nicht wieder erholen wird. Wenn Herr Elsin vorbeikommen könnte –«
»Ich werde kommen.« Ninas Puls rast. »Erklären Sie mir bitte nur den Weg zu Ihnen.«
Im Krankenhaus wird sie in einen Raum voller belegter Betten gebracht. Veras liegt versteckt hinter einer großen Trennwand in einer der vorderen Ecken. Wie betäubt fragt sich Nina, seit wann sie nun schon ernsthaft krank ist. »Was fehlt ihr denn?«,
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