Die Tänzerin im Schnee - Roman
kleiner Verrat. Wahrscheinlich hatte sie Viktor nie ganz vertraut, zumindest nicht so sehr, wie sie dachte. Vermutlich steckte dieser Splitter des Zweifels die ganze Zeit über in ihr, hatte sich dort festgesetzt, wie in jedem anderen, jedem gegenüber.
Kein Schicksal, aber dennoch unabwendbar.
Drew bat sie: »Ich würde mich aber wirklich besser fühlen, wenn Sie mich einen Arzt rufen ließen.«
»Meine Pflegerin wird bald hier sein. Sie kommt um fünf.« Nina hörte, wie schwach sie klang.
»Na dann … also gut.« Drew hörte sich verängstigt an. »Aber rufen Sie mich bitte an, wenn Sie Hilfe benötigen, bevor Ihre Pflegerin erscheint.«
Mit letzter Kraft brachte Nina hervor: »Ja. Auf Wiedersehen.«
Grigori bemühte sich den ganzen Nachmittag zu verstehen. Wenn Drews Annahme korrekt war, dann war jemand anderes sein Vater als der Mann, den er die ganze Zeit dafür gehalten hatte. Der Komponist Gerschtein. Und die Frau, von der er dachte, dass sie seine Mutter war … Aber weshalb besaß Nina Rewskaja dann zwei der Bernsteinschmuckstücke? Und warum hatte sie sich ihm gegenüber so merkwürdig verhalten? Abgesehen davon, dass sie in dem Interview auf
News 4
behauptet hatte, der Schmuck stamme aus Elsins Familie. Warum hätte sie das erzählen sollen, wenn es nicht stimmte?
Vielleicht hatte Viktor Elsin ihr nicht die Wahrheit gesagt – dass Gerschtein ihm die Steine gegeben (oder er sie von ihm genommen?) hatte. Oder, nein, vielleicht hatte Gerschtein selbst sie Nina Rewskaja geschenkt, vielleicht war er in sie verliebt gewesen. Aber das konnte auch wieder nicht sein, wenn man nur an die andere, wunderschöne Frau dachte, die sich auf dem Foto an ihn lehnte, und wie sein Gesicht dabei vor Liebe aufleuchtete …
Sein Kopf dröhnte bereits von all den Gedanken und Vermutungen. Grigori nahm eine Tylenol und setzte sich an seinen Schreibtisch, um noch einmal die Originalbriefe zu lesen – von denen er solange geglaubt hatte, Viktor Elsin habe sie verfasst. Zum einen war da das »bitte verzeih mir« am Anfang, das Grigori stets als Hinweis auf eine Ehestreitigkeit aufgefasst hatte. Dann das »große, breite Netz, aus dem es kein Entrinnen« gab – er hatte es sich oft wie das Spinnennetz in diesem letzten Gedicht vorgestellt. Nun, womöglich war das ein bisschen zu weit hergeholt … Doch was war dann mit dieser Stelle, hier wurde doch ganz eindeutig das gleiche Bild verwendet wie in »Schwimmen bei Nacht«:
… uns alle nach dem Schutz der Bäume sehnten. Und du hattest Angst, der feuchte Boden würde auf deinem Rock Flecken hinterlassen. Ich kann die Fichtennadeln immer noch riechen, den Winter, der sich in ihnen versteckt, kühl und köstlich, das Schachbrettmuster, das die Schatten dieser Äste bildeten.
Grigori musste das Gedicht »Schwimmen bei Nacht« nicht vor sich haben, um darin das Echo dieses Briefes zu vernehmen:
Schattenflickendecke, Fichtennadelteppich, Sonnentropfen aus gelbem Harz. Die Luft klingt …
Es musste sich um denselben Sommertag handeln, heiß und erfüllt vom Geräusch der Insekten. Der Schatten hatte sich von einem »Schachbrett« in eine »Flickendecke« verwandelt, die Fichtennadeln waren unverändert geblieben. Die »Sonnentropfen aus gelbem Harz« erinnerten eindeutig an den Baumsaft:
Manchmal glaube ich, dass wir überhaupt nur für perfekte Tage wie diesen auf der Welt sind. Natürlich gab es den Fleck, den der Baumsaft auf deinem Rock hinterlassen hat. Dieses gelbbraune Harz, in Zeitlupe fließende Tränen, als würde der Baum selbst die Zukunft kennen.
Zugegebenermaßen beschrieben viele Leute Tropfen einer Flüssigkeit als Tränen. Der Dichter Elsin hatte in »Schwimmen bei Nacht« aus dem Saft »Sonnentropfen« gemacht. Genau wie in seinem letzten Gedicht, wo er von »diesem hellen Juwel, der Sonne« schreibt und weiter: »Alte Tränen verhärten sich, wie Herzen.« All diese Beispiele sah Grigori als Beweis dafür, dass Elsin sowohl die Sonne als auch denSaft mit Bernstein verglich … Mit
dem
Bernstein in der Goldfassung. Der im Brief als »Sonnenschein in kleinen Tropfen« auftauchte. In diesem Brief lag Poesie. Vielleicht nichts allzu Originelles, aber es lag doch nahe, dass ein Dichter – der Dichter Viktor Elsin – ihn geschrieben hatte.
Allerdings war der Brief so traurig, »die Zukunft« erschien in ihm so düster … Elsin hätte ihn geschrieben haben müssen, nachdem etwas Schlimmes passiert war. Die Verhaftung seines Freundes,
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