Die Tänzerin im Schnee - Roman
Gerschtein … Spielte darauf nicht auch sein letztes Gedicht an? »Unbarmherziger Wind«, heißt es da. Und: »Ein röchelnder Haselstrauch: Zugabe, Zugabe!« Das war doch bestimmt genauso ein Verweis auf die Musik wie der eine Vers aus »Schwimmen bei Nacht«: »Die Luft klingt … Die unsichtbare Nachtigall, zu spät, singt ihr unbeugsames Lied …«
Grigori merkte, dass er die Hände um den Kopf gelegt und die Fingerkuppen fest in die Haut gepresst hatte. Als könnte der Druck, der Griff seiner Fingerspitzen, eine neue Erkenntnis aus ihm herauspressen. Er befasste sich mit der Unterschrift des Briefes: »Dein und nur dein« – Gersch hätte doch wohl unmöglich einen Brief so unterzeichnet, wenn er in Wirklichkeit sowohl eine Frau als auch eine Geliebte hatte? Andererseits schrieben Menschen nicht immer die absolute Wahrheit. Gerade, wenn es sich um einen Entschuldigungsbrief handelte.
Das Schachbrettmuster, das die Schatten dieser Äste bildeten
, der Kiefernsaft, der Flecken auf ihrem Rock hinterließ.
Wessen
Rock? Könnten mehr als nur eine Frau zugegen gewesen sein? Vielleicht auch zwei Pärchen – die Personen auf dem Foto vor der Datscha und noch jemand, der das Bild geschossen hatte.
Die unmögliche Perfektion dieses Sommers …
Hör auf, Grigori. Denk an das, was Drew gesagt hat: Beginne mit dem, was du sicher weißt.
Er wusste, dass irgendjemand diesen Brief geschrieben hatte, an eine Frau, die er liebte. Wenn es sich dabei um Gerschtein handelte, wäre das eine Erklärung für den düsteren Tonfall, der einen Verlust evozierte – den Verlust der Frau, die er nicht heiraten konnte, der wunderschönen Frau auf dem Foto. Das könnte Sinn ergeben.
Waren diese Briefe womöglich aus dem Gefängnis gesendet worden, steckten sie deshalb so voller Reue?
Unser lieber V. hat mir erzählt, dass ihr vielleicht einen Ausflug zusammen unternehmen werdet. Wir können uns glücklich schätzen, solche Freunde zu haben! Doch Liebste, ich bitte dich – nur wenn schönes Wetter ist. Und vergiss den Pass nicht. Dieses eine Lied will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, in dem ein Mann seine Frau so vermisst wie die Welle das Ufer – immer und immer wieder. Genau so vermisse ich dich.
Ein Ausflug. Grigori hatte nie viel Zeit an die Frage verschwendet, wer »unser lieber V.« gewesen sein könnte. Mit diesem Buchstaben begannen schließlich so viele Namen, da schien es aussichtslos, ihn erraten zu wollen. Nun sah er sich allerdings mit einer neuen Möglichkeit konfrontiert: das V. könnte für Viktor Elsin stehen. Und dann war da noch dieser Satz, der Grigori ins Grübeln gebracht hatte: Und vergiss den Pass nicht. Eine merkwürdige, überflüssig erscheinende Warnung in einer Zeit, in der niemand das Haus ohne Papiere verließ. Ein Pass war eine Selbstverständlichkeit, den man wie eine Geldbörse immer mit sich trug. Nichts, was man extra erwähnen musste. Außer, es war eine Chiffre für etwas anderes. In dem Fall hörte sich plötzlich auch »nur wenn schönes Wetter ist« an, als würde es eine verdeckte Botschaft transportieren. Grigori schloss überwältigt und mit immer noch rasendem Herzen die Augen.
Beide Möglichkeiten erschienen ihm nun plausibel, nachdem Drew Gerschtein ins Spiel gebracht hatte. Er klang tatsächlich wie ein Mann, der gefangen war, der verstoßen oder bestraft wurde. Aber die Gedichte – sie stammten von Elsin. Daran gab es immerhin keinen Zweifel.
Grigori kam ein Gedanke, der ihm zwar sonderbar erschien, dem er aber doch nachgehen wollte. Könnte Elsin die Briefe gelesen und die Wortwahl daraus übernommen haben?
Nein. Unmöglich. Er war ein Dichter, er hatte es nicht nötig, aus der Korrespondenz eines anderen zu klauen.
Dennoch waren es dieselben Bilder. Oder, wenn nicht ganz dieselben, waren sie doch sehr ähnlich …
Ähnlich genug, um in einer Seminararbeit eine Hypothese aufzustellen, für die er eine Eins bekam. Aber bedeutete das, dass Elsin von Gersch geklaut hatte? Die Gedichte unterschieden sich eindeutig von seinen anderen. Aber wiederum nicht so sehr, dass man den Eindruck bekam, er habe sie
abgeschrieben
… Und weshalb hätte er das auch tun sollen?
Vielleicht war es gar keine Absicht gewesen. Er hatte die Briefe eben gelesen – und sie womöglich selbst überbracht? Als Abgesandter des Gefangenen? – und die Bilder hatten sich in seinem Kopf festgesetzt. Immerhin handelte es sich hier um seinen engsten Freund …
Oder aber er hatte die Briefe gar nicht
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