Die Tänzerin im Schnee - Roman
gelesen, sondern war selbst auch anwesend gewesen, zusammen mit Nina Rewskaja, die so gut mit der anderen Ballerina befreundet gewesen war. Und diese war mit Gerschtein dort; zwei Liebespaare, die am Fluss vor der Datscha unter einer Kiefer Schutz vor der Sonne suchten.
Grigori merkte, dass er auf seiner Lippe herumkaute. Er atmete lang und tief ein, um sich zu beruhigen. Aber er konnte nicht aufhören und nahm sich noch einmal die Fotografien vor, die er von Drew zurückbekommen hatte, die ihm gehörten, die er so gut kannte und die er ihr mit so viel Erleichterung gezeigt hatte. Er versuchte, sich alles noch einmal vorzustellen, die ganze Geschichte in seinem Kopf noch einmal zu schreiben – er sah Gerschtein ja gar nicht ähnlicher als Elsin oder Rewskaja oder eben dieser anderen Frau. Nun ja, dieser Spalt in seinem Kinn sah ein bisschen aus wie bei Elsin. Seine Augen dagegen – sie hatten eindeutig etwas von Gerschteins, das musste er zugeben. Und sein Mund, war nicht irgendetwas an Vera Borodinas Mund seinem sehr ähnlich? Und seine Wangenknochen – genau wie Nina Rewskajas.
Der Gedanke, dass er nun vier Eltern anstelle von nur zweien besaß, brachte ihn beinahe zum Lachen. Sogar sechs, wenn man Katja und Feodor mitzählte. Seine lieben Eltern, die für ihn echter waren als alle anderen und die er sich manchmal sehnlichst wiederzusehen wünschte.
Nun, aber warum interessierte er sich dann für die Vergangenheit? Sein Leben fand jetzt und hier statt. Drew war hier, hatte direkt vor ihm gestanden. Und er war einfach davongestampft.
Grigori schaute auf seine Armbanduhr. Obwohl es schon nach fünf war, griff er rasch nach dem Telefonhörer, um zu versuchen, Drew noch auf der Arbeit zu erreichen. Als sich der Anrufbeantworter meldete, hinterließ er darauf eine Entschuldigung – aber das genügte nicht, das wusste er. Er fühlte sich plötzlich völlig verzweifelt. Er setzte sich vor seinen Computer, wo er das Telefonverzeichnis für Boston aufrief. Es gab zwar drei Einträge unter dem Namen Drew Brooks, aber nur einer von ihnen war nicht als Teil eines Paares gelistet. Ohne zu zögern, wählte Grigori diese Nummer.
Drews Stimme erschien auf dem Anrufbeantworter. Zunächst sank Grigoris Mut, da er sie wieder nicht erreicht hatte. Dann sagte er sich, dass er nun immerhin wusste, dass er die richtige Nummer hatte, die richtige Drew. Seine Drew. Er las die Adresse noch einmal, zog seinen Mantel an und machte sich auf den Weg.
Cynthia ließ ihre Handtasche und ihren Arztkoffer fallen und eilte zu Nina hinüber. »Meine Süße, Sie sehen ja furchtbar aus.«
»Dann sehe ich genauso aus, wie ich mich fühle.«
»Warum haben Sie mich nicht angerufen? Haben Sie den Arzt verständigt?« Cynthia hatte bereits Ninas Handgelenk ergriffen und kontrollierte nun ihren Puls.
Wenn Vera Gersch tatsächlich im psychiatrischen Lager besucht und Viktor sie wirklich dort hingebracht hatte, dann hatte Viktor in Wahrheit gar keine Affäre mit Vera oder irgendeiner anderen gehabt. Nein, Gersch hatte ihn gebeten, die Edelsteine aufzubewahren, damit Zoja sie nicht nehmen und er sie Vera schenken konnte. Und Madame – nun, sie glaubte eben einfach, sie hätte die Überraschung für Nina ruiniert. Nur eine ihrer üblichen schwiegermütterlichen Sticheleien. Wahrscheinlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, was für ein Chaos sie damit anrichtete.
»Ihr Puls ist niedrig. Aber noch nicht im gefährlichen Bereich.« Cynthia wühlte nun in ihrem Arztkoffer herum und zog ein Thermometer heraus, das sie aus seiner sterilen Verpackung befreite. »Seit wann fühlen Sie sich krank?«
Nina gab keine Antwort, woraufhin Cynthia ihr das Thermometer in den Mund steckte.
»Womöglich müssen wir uns auf den Weg machen«, erklärte Cynthia. »Ins Krankenhaus. Ich werde mit Ihnen kein Risiko eingehen.« In dieser Art redete sie ununterbrochen weiter, über Ärzte und Untersuchungen und wie blass Ninas Haut war, aber Nina hörte ihr nicht mehr zu. Sie dachte an Viktor und daran, wie sehr sie ihn in den Stunden nach Veras Tod gehasst hatte. Dass sie Vera doch auch geliebt hatte und dass sie es hätte wissen müssen und insgeheim wohl auch die ganze Zeit über gewusst hatte. Habe ich diesen jungen Mann, Grigori Solodin, deshalb vor all den Jahren vor meiner Tür stehenlassen? Ich muss auch das geahnt haben – dass er mir das antun konnte, mir diese Wahrheit enthüllen.
Solange sie es nicht sicher gewusst hatte, war es noch nicht ganz so
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