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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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grausam gewesen, wenn sie sich von Zeit zu Zeit zögernd und widerwillig vorstellte, was Viktor wegen ihr durchgemacht haben musste. Wenn ich in jener Nacht nicht verschwunden wäre, hätte es keinen Verdachtsmoment gegeben. Keinen Beweis, nichts, was ihn schuldig aussehen ließ. Ich habe ihnen einen Grund geliefert, den Serge sich nicht mal extra auszudenken brauchte. Und dabei gab es überhaupt keinen Anlass für mich, zu verschwinden. Denn ich wusste doch, wie sehr Vera Gersch liebte, ich wusste, was sie für ihn bereit war zu tun. Aber dann war da Serge, der grässliche Serge, direkt vor mir auf dem Bürgersteig … Veras Worte:
Er hat behauptet, er könne seine Beziehungen spielen lassen.
Der Zufall und die Willkürlichkeit der ganzen Sache – dass er ausgerechnet in diesem Augenblick vor Nina aufgetaucht war.
    Wenn ich ihn doch nur nicht gesehen hätte, dann wäre unser Leben vielleicht anders verlaufen. Sein Blick, der voller Wut und Trauer war und nach Vergeltung rief. Und Polina, die wie ein Geist hinter dem Türrahmen schwebte …
    Nina spürte, wie sich Verzweiflung in ihr breitmachte, während sie panisch nach einem Ausweg suchte – nach einer Möglichkeit, sich einzureden, all das wäre doch nur halb so schlimm. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum und boten kurze Einblicke in das Leben, das möglich gewesen wäre, und das, das tatsächlich stattgefunden hatte. Nun, da war immerhin Inge, sagte Nina sich, fühlte sich dadurch jedoch kaum erleichtert. Wenn sie nicht geflohen wäre, wäresie niemals in der Lage gewesen, Inge die Stellung in Bonn zu verschaffen. Das war doch etwas.
    Cynthia hatte sich vorgebeugt und wischte Ninas Tränen weg, wobei sie versuchte, das Thermometer in ihrem Mund nicht zu verrücken. Nina hatte nichts dagegen; der Schmerz einer jeden noch so kleinen Bewegung war in diesem Augenblick einfach zu viel für sie.
    Nachdem sie das Thermometer entfernt hatte und sichergegangen war, dass Nina nicht umkippen würde, zog Cynthia einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Dann streckte sie einfach den Arm aus und nahm eine von Ninas kalten Händen in ihre. Dabei blickte sie sie ganz ruhig an, und Nina erkannte überrascht: So sieht also Mitgefühl aus.
    »Cynthia, Sie sind sehr freundlich zu mir. Das habe ich nicht verdient.«
    »Wollen Sie etwa schon wieder damit anfangen? Mit dem Verdienen oder Nichtverdienen?«
    »Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen.«
    »Und ich habe Ihnen schon einmal gesagt, was ich über Fehler weiß. Dass es nie zu spät ist, zu versuchen, sie wiedergutzumachen.«
    »Selbstverständlich ist es zu spät. Diese Menschen sind tot.« Jeder einzelne von ihnen, aufgrund von Fehlern. Nicht nur Viktor und Vera, sondern auch Veras Eltern:
Die Nachbarin hat mir erzählt …
Sogar Ninas eigener Onkel. Hinter ihr lag eine Spur aus Leichen. Ohne Zweifel war es zu spät. Diese Menschen waren alle für nichts und wieder nichts gestorben, und das Einzige, was noch von ihnen übriggeblieben war, waren Erinnerungen – im Kopf einer Frau, die so gebrechlich war, dass sie ohne Cynthias Hilfe keinen Tag überleben würde. »Ich kann mir nicht einmal selbst die Tränen wegwischen, wie soll ich da meine Fehler wiedergutmachen?«
    Cynthia drückte nur ihre Hand.
    Veras Hand in ihrer, beim Vortanzen im Bolschoi-Theater …
    Nina schloss die Augen, ihr tat das Herz weh. »Wer wird sich auch nur an diese Menschen erinnern, wenn ich gestorben bin? Das waren doch echte Menschen.« Es klang so dumm, wie sie es ausdrückte, sie hatte etwas ganz anderes sagen wollen. Sie wollte sagen, dass es eine Schande war, dass ihr Leben – die schlichte Tatsache, dass sie gelebt hatten, und die Wahrhaftigkeit, die darin lag – mit ihnen zusammenverlorenging. Niemand bewahrte den Kern ihres Daseins auf. Wer sie gewesen waren. Bei diesen Gedanken schreckte Nina plötzlich auf.
    »Cynthia«, rief sie mit weit aufgerissenen Augen, und ihr Körper füllte sich schlagartig mit neuer Energie. »Bitte rollen Sie mich zum Schreibtisch.« Manche Gedanken treten so klar und deutlich vor einen, als hätte man die Antwort schon immer in sich getragen.
    »Ist das in Ordnung so?«, fragte Cynthia, während sie Ninas Rollstuhl ins Arbeitszimmer schob. »Sind Sie sicher, dass Sie sich besser fühlen?«
    »Ja, danke. Vielen Dank. Ich werde hier bei einigen Dingen Ihre Hilfe benötigen.« Sie dachte einen Moment lang nach und zog dann die Kappe von ihrem Füllfederhalter. Sie musste einen Brief und eine

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