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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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lächerlich-irritierende Enttäuschung, dass er dort nicht Christine bei einer Tasse entkoffeinierten Kaffees antraf, gleichzeitig einen Stapel Englisch-als-zweite-Fremdsprache-Arbeiten korrigierend und einen Becher Joghurt essend. Sie war einer jener Menschen gewesen, die morgens die Augen aufschlugen und einfach aus dem Bett sprangen, ohne erst einmal wach werden und sich den Schlaf aus den Augen reiben zu müssen.
    Er schenkte sich ein Glas Tomatensaft ein, nahm einen Schluck und ging los, um die Zeitung von der Veranda zu holen. Eine schmale Spalte auf der Titelseite trug die Überschrift: »Sensation im Auktionshaus«, und darunter in kleinerer Schrift: »Geheimnisvoller Spender schenkt seltenes Juwel, Interesse steigt.«
    Grigori konnte Christine regelrecht sagen hören: »Ich kann mir nicht helfen, aber ich mag sie nicht.«
    »Ach, weißt du«, hatte Grigori immer gesagt, wenn sie auf Nina Rewskaja zu sprechen gekommen waren, »wir sollten nicht zu hart mit ihr ins Gericht gehen.« Er hatte ihr gegenüber stets eine verteidigende Haltung eingenommen. Er wusste, dass es Christine eine Menge Beherrschung kostete, nicht einfach selbst in Aktion zu treten. Das war auch der Hauptgrund gewesen, weshalb er all die Jahre gezögert hatte, ihr von Nina Rewskaja zu erzählen. Nicht mangelndes Vertrauen oder Scheu oder Verlegenheit, sondern das Wissen, dass eine Frau wie Christine nicht in der Lage sein würde, sich einfach zurückzulehnen und den Status quo zu akzeptieren. Sie war ein Ärmel-hoch-und-los-, ein Das-Glas-ist-halb-voll-Optimist gewesen, hatte Pädagogik im Hauptfach studiert und darüber nachgedacht, einen Master in Sozialarbeit zu machen. Grigori hatte ihr zunächst nur die konkreten Tatsachen erzählt, über seine Eltern, dass er adoptiert worden sei, dass er zunächst in Russland, dann Norwegen, dann Frankreich und zuletzt, ab dem späten Teenageralter, in Amerika aufgewachsen war, geschwisterlos. Als er Christine schließlich mit fünfundzwanzig – sie waren zu diesem Zeitpunkt ein halbes Jahr zusammen– von der Balletttänzerin Rewskaja erzählte, musste sie ihm zunächst versprechen, dass sie nichts unternehmen, nicht aktiv werden würde und dass sie Grigori die Sache allein und auf seine Art regeln lassen würde.
    »Ganz zu schweigen davon, dass du der Einzige bist, der sich je die Zeit genommen hat, Elsins Gedichte ins Englische zu übersetzen.
Und
sie veröffentlichte. Ich verstehe nicht, wie ihr das Vermächtnis ihres eigenen Ehemannes so gleichgütig sein kann.«
    Ach, Chrissie – meine Löwin, wie ich dich vermisse.
    »Und kein einziges Dankeschön …«
    Dass aus seinem Interesse an Nina Rewskaja schließlich Grigoris Forschungsthema – die Dichtkunst Viktor Elsins – geworden war, war einer der wenigen positiven Aspekte seiner Obsession. Wann immer das Gespräch auf Nina Rewskajas Verschwiegenheit kam (nicht nur mit Christine, die die ganze Geschichte kannte, sondern mit jedem, der sich für Grigoris Übersetzungen und Forschung interessierte), war es Grigori gelungen, in sachlichem Ton zu sagen: »Sie machte damals eine schwere Zeit durch. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass sie an bestimmte Dinge einfach nicht erinnert werden möchte. Sich dem Thema mit den Augen eines Wissenschaftlers zu nähern könnte für sie dem Öffnen der Büchse der Pandora gleichkommen. Dieses Prüfen und Untersuchen …«
    Auf die Frage, ob er Nina Rewskaja bei den Studien über die Dichtkunst ihres Mannes um Hilfe gebeten hätte, gab Grirori stets die gleiche Antwort: »Nicht im Speziellen.« Stellte diese Antwort sein Gegenüber nicht zufrieden, fügte Grigori noch hinzu: »Sie weiß, dass ich seine Gedichte übersetzt habe, ja, aber … eine
aktive
Rolle als Verwalterin von Elsins literarischem Werk hat sie nicht gespielt.« Tatsächlich behauptete sie, keinerlei Unterlagen oder persönliches Material von Viktor Elsin zu besitzen. Grigori hatte beschlossen, das als die Wahrheit zu akzeptieren. Schließlich sahen sich Unmengen an Wissenschaftlern mit derartigen Herausforderungen konfrontiert. Und zwar nicht nur Biografen, sondern ein jeder Forscher, der damit zu leben hatte, dass jemand zwischen ihm und seinem Thema stand. Es war Teil des Berufsbildes. Außerdem bedeuteten Grigori die Gedichte selbst und die Wahrheiten, die sie enthielten, weitaus mehr als jedesBuch, das er über sie oder ihren Autor hätte schreiben können, mehr als jeder Aufsatz, den er veröffentlicht, oder alle Vorträge, die

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