Die Tänzerin im Schnee - Roman
aufgestanden, hatte sich hinter sie gestellt und sie an sich gezogen – die Irritation, das Mädchen, das er liebte, mit diesem alten, rätselhaften Schmuckstück zu sehen, ließ merkwürdigerweise bereits nach. Stattdessen verspürte er Erleichterung, dass Christine mit diesem Teil seiner Welt nichts zu tun hatte. Er warf einen Blick in den Spiegel und sah, zu seiner Überraschung, ein junges, verliebtes Pärchen.
Von diesem Augenblick an rückten alle Fragen, die ihm bislang so zentral erschienen waren, in die Ferne; das Leben mit Christine verdrängte jene Rätsel, wurde präsenter als die Vergangenheit, schuf eine
neue
Vergangenheit, eine
neue
Geschichte – mit Christine, die ihn so gut kannte wie kein anderer Mensch, Christine, der Ort, an dem seine Suche endlich geendet hatte.
Ach, Chrissie.
Grigori trank seinen Tomatensaft aus. Als wären die vergangenen zwei Jahre nicht schwer genug gewesen, war da nun wieder dieses Loch, das Tag für Tag größer zu werden schien: sein Wunsch, sein Bedürfnis, seinen Weg wiederzufinden.
Er stellte das leere Glas in die Spüle. Dies war der Moment, in dem Christine auf die Uhr gesehen, »Himmel, ich muss los«, gerufen und ihm einen nach Kaffee schmeckenden Kuss gegeben hätte.
Grigori schüttelte den Gedanken ab, holte seinen Mantel und seine Handschuhe aus dem Garderobenschrank und rüstete sich für einen kalten, kalten Tag.
Los 16
Antike Brosche aus 14 kt. Gold und Lavastein, Russland, Darstellung:
Basilius-Kathedrale. Russische Feingehaltspunze 56 Zolotnik,
in Original-Schmuckschachtel mit kyrillischer Aufschrift. 1500–3000 Dollar
KAPITEL 3
W ieder klingelte das Telefon. Zunächst waren es der »Herold« und der »Globe« gewesen, doch nun hatten die Boulevardblätter Witterung aufgenommen: »TAB«, »Phoenix«, ganz zu schweigen von den lokalen Fernseh- und Radiosendern. Alles aufgrund der zweiten Pressemeldung von Beller. Man sollte meinen, es geschehe sonst nichts in ganz Massachusetts. Doch natürlich war das hier Boston, das Epizentrum des Staates, wo die Menschen wegen Belanglosigkeiten aus dem Häuschen gerieten und Lokalreporter nach Neuigkeiten schnüffelten … Zunächst behalf sich Nina mit dem zweckdienlichen, wenn auch etwas unrühmlichen Satz: »Kein Kommentar.« Doch es fühlte sich falsch an, und mit jedem Mal fühlte sie sich machtloser.
»Haben Sie irgendeine Idee, wer der anonyme Spender sein könnte?«
»Kein Kommentar.«
»Waren Sie überrascht, zu hören, dass jemand im Besitz von Bernstein ist, der zu Ihrem passt?«
»Kein Kommentar.«
Nachdem beinahe ein ganzer Tag auf diese Weise vergangen war, stellte Nina fest, wie dumm sie gewesen war, nicht einfach den Klingelton abzustellen. Sie fand den entsprechenden Schalter und fühlte sich, wie sich ein Wissenschaftler fühlen musste, der eine einfache, aber brillante Entdeckung machte. Und so hatte sie anderthalb Tage ihre Ruhe – bis Cynthia entdeckte, dass der Schalter umgestellt war, dieses saugend-schnalzende Geräusch durch ihre Zähne machte – das Zeichen ihrer Missbilligung – und ihn wieder zurückstellte. Anschließend schimpfte sie mit Nina und hielt ihr eine Predigt über Sicherheit und ihre Arbeitsvorschriften beim Seniorendienst. Als das Klingeln dann wieder einsetzte, schimpfte sie abermals mit Nina, weil sie keinen Anrufbeantworter besaß.
Am nächsten Tag sagte Cynthia dann: »Wissen Sie, meine Süße, ich wette, wenn Sie denen nur ein Interview geben, dann sind die ruhig.«
»Ich habe in meinem Leben mehr als genug Interviews gegeben.«Das Problem war – dessen war sich Nina bewusst –, dass sie »denen« gehörte. Andere ehemals berühmte Tänzer lebten in New York, Paris oder auf Mallorca, doch Nina war Bostons ureigene Grande Dame des Balletts. Dennoch wollte sie mit niemandem sprechen, am allerwenigsten mit irgendeinem Schreiberling von »Worcester Telegram & Gazette«. In letzter Zeit ertappte sie sich manchmal dabei, wie sie zu viel erzählte, Dinge ausplauderte, die sie nicht hatte sagen wollen. Es lag an den Tabletten. Sie machten sie nicht nur benommen, sondern auch geschwätzig, waren dafür verantwortlich, dass sie viel länger mit Cynthia redete, als sie eigentlich wollte. Letzte Woche hatte sie zum Beispiel inmitten eines ausführlichen Berichts über ihre Tanzschule in London feststellen müssen, dass sie sich gar nicht mit einer Freundin unterhielt, sondern mit Cynthia.
»Was ich sagen will, ist«, fuhr Cynthia fort, »solange Sie nicht mit
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