Die Tänzerin im Schnee - Roman
ihnen reden, werden sie weiter anrufen. Geben Sie ihnen aber, was sie wollen, ziehen sie ab.« Sie musste bemerkt haben, dass Nina darüber nachdachte. »Ein Exklusivinterview«, fügte Cynthia hinzu, als ob sie in der Branche tätig wäre und alle naselang solche Begriffe benutzte.
So kam es also, dass Nina Channel 4 News ein Interview gab. Es war in null Komma nichts arrangiert, bedurfte nur eines einzigen Rückrufs. Als Cynthia hörte, dass June Hennessey und ihr Team am nächsten Abend zur Aufzeichnung in die Wohnung kommen würden, brachte sie Nina eine völlig neue Form der Wertschätzung entgegen und rief: »Warten Sie, bis Billy das hört!« Dem Vernehmen nach war June Hennessey seit Jahrzehnten
die
Unterhaltungsreporterin von News 4 New England und selbst so eine Art Berühmtheit; laut Cynthia war sie die Letzte, die Rose Kennedy interviewt hatte, bevor diese starb. Nina hätte eine Augenbraue hochgezogen, hätte ihr steifes Gesicht es zugelassen. »Dann plant sie vermutlich, mir ebenfalls den Garaus zu machen.«
Es ehrte Cynthia, dass sie nicht darüber lachte. »Irgendetwas sagt mir, dass es mehr dazu bräuchte, Sie ins Jenseits zu befördern.«
Am Nachmittag der Aufzeichnung erschien Cynthia nicht wie gewöhnlich in ihrem Schwesternkittel, sondern trug eine elegante schwarze Hose, einen eng anliegenden violetten Pullover sowie fröhlich malvenfarbenen Lippenstift. Nina beschloss, ihre Bemühungenunkommentiert zu lassen und June Hennessey, den beiden Kameramännern dem dünnen und finster dreinblickenden Produzenten sowie dem Techniker das gleiche Desinteresse entgegenzubringen. Mikrofone und große, freistehende Lampen wurden aufgestellt, Nina wurde abgepudert und geschminkt, während der Produzent mit verschränkten Armen dastand und alle herumscheuchte. Doch alles, worauf es Nina – inmitten einer von Cynthia drapierten Wolke aus steifen, kleinen Samtkissen auf dem Diwan sitzend – ankam, war, dass sie ihre Antworten bereit hatte. Als June Hennessey, die neben ihr saß, fragte: »Grenzt es nicht an ein Wunder, dass die Bernsteinkette, die zu Ihrem Set passt, ebenfalls hier in den USA aufgetaucht ist und nicht in Russland?«, zögerte Nina nur einen ganz kleinen Moment.
»Es ist mysteriös. Doch ich bin mir sicher, dass so etwas häufiger passiert. Zusammenpassende Schmuckstücke – oder andere Dinge, warum nicht? – werden durch Diebstahl voneinander getrennt oder landen vielleicht in Pfandhäusern, wer weiß? Oder es war Verzweiflung oder Bestechung im Spiel.« Das helle Licht, das von der ersten Kamera auf sie herunterstrahlte, tat ihr in den Augen weh.
»Bestechung«, wiederholte June Hennessey mit dramatischer Stimme, und Nina war klar, dass sie mehr hören wollte.
»Das war die gängige Art in der Sowjetunion, Probleme zu lösen.«
June Hennessey nickte ausgiebig wissend, so dass dem zweiten Kameramann genug Zeit blieb, ihre Reaktion einzufangen. »Sie haben Diebstahl als Möglichkeit erwähnt. Glauben Sie, dass der Kettenanhänger gestohlen wurde?«
»Das ist äußerst wahrscheinlich. Sehen Sie, das Armband und die Ohrringe hat mein Mann an mich weitergereicht. Sie stammen aus seinem Familienbesitz, aber viele dieser Wertsachen sind während des Bürgerkriegs verlorengegangen.« Zumindest der letzte Halbsatz war wahr.
»Welch eine Tragödie.« June Hennessey zauberte sich einen verwundeten Ausdruck aufs Gesicht, und der zweite Kameramann verstellte etwas an seinem Objektiv und zoomte sie heran. »Ihr Mann kam ums Leben, nicht wahr – nicht in der Revolution, sondern …«
»Offiziell, ja.«
»Schrecklich, einfach schrecklich.« June Hennessey schüttelte denKopf, wobei die Wellen ihrer akkurat frisierten Haare steif hin und her schwangen. »Und diese
traumhaft
schönen Schmuckstücke trugen Sie auf Ihrer Flucht bei sich.«
»Ich habe sie aus Russland mitgebracht, die Umstände waren sehr gefährlich und elend.« Nina konnte das leise Summen des Zooms hören.
»Dann handelt es sich bei den Stücken in gewisser Weise um Andenken?« June Hennessey zog hoffnungsvoll die Augenbrauen hoch. »Sie sind also nicht nur unglaublich selten,
traumhaft
schön und insgesamt eine geschätzte Million Dollar wert, sondern haben für Sie außerdem emotionalen Wert. Sie stammten aus der Familie Ihres Mannes, und als Sie Ihren Mann verloren, war der Bernsteinschmuck, den er an Sie weitergegeben hatte, alles, was Ihnen von ihm geblieben war.«
June Hennessey blickte sie verzückt an, und Nina
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