Die Tänzerin im Schnee - Roman
antwortete mit schwacher Stimme: »Ja. Alles, was mir von meinem Mann geblieben war.«
Im Jahr 1947 ist sie einundzwanzig und seit drei Jahren im Ensemble. Fünf, wenn man die Kriegsjahre mitzählt, in denen sie mit einer kleinen Gruppe im Filial geblieben ist, während die übrigen Tänzerinnen in eine Stadt an der Wolga evakuiert wurden. Nina war eine von gerade mal zwei Absolventinnen, die neu in die Truppe aufgenommen wurden – eine gewaltige Ehre, wenn auch vielleicht keine große Überraschung.
Schließlich hat sie vom ersten Tag in der Ballettschule an alle übertroffen, hat zehn Jahre lang dem mörderischen Druck standgehalten, zehn Jahre voller Pliés, Relevés und zusammengekniffener Hinterbacken. (»Stellt euch vor, ihr haltet damit eure Straßenbahnfahrkarte fest«, sagte die Lehrerin in der allerersten Stunde. »Und lasst sie bloß nicht fallen!«) Zehn Jahre voller Chassés quer über den nass gesprenkelten schrägen Holzboden, in Ballettsälen, deren Fenster blind waren von kondensiertem Schweiß. Zehn Jahre voller Schmerzen. Von den ersten Anfängen als kleines Mädchen ganz in Weiß, das vor jedem vorüberhastenden Erwachsenen zu knicksen hatte, bis zu den späteren Jahren in schwarzen Trikots und hellen Strumpfhosen, in denen sich die Konturen jedes Beinmuskels um so genauer abzeichneten,hat sie die vernichtenden Kommentare ihrer Ausbilder ertragen, ihre minutiösen Korrekturen, die abschätzige Berührung ihrer Fingerspitzen mal hier, mal da – die Schulter noch etwas zurück, das Kinn eine Idee tiefer – und sich ihre widerwillige Anerkennung erkämpft, das kaum merkliche freudige Aufleuchten in ihren Gesichtern, wenn Nina ihre Drehungen und Sprünge vollführte, wenn sie ihr auftrugen, den Saut de Basque vorzumachen: »Nina, zeig der Klasse, wie ich es meine.« Schon dass sie sich immer an ihren Namen erinnerten, bewies, wie sehr sie sie beeindruckte. Selbst als kleines Mädchen und ohne eine einflussreiche Familie im Hintergrund wurde sie immer wieder für Tanzszenen in der Oper oder Kinderrollen im Ballett ausgewählt, als Maus, als Blume, als Page. Mit der Zeit wurde sie muskulöser, gelenkiger, gertenschlank und geschmeidig, und aus jeder ihrer Bewegungen sprachen vollendete Grazie und Raumgefühl. Aber was sie wirklich von allen anderen unterschied, war ihre Willenskraft, war Opferbereitschaft, Ehrgeiz und Selbstdisziplin. Wie sie sich noch bei der scheinbar leichtesten Übung so sehr konzentrierte, dass ihr der Schweiß an Gesicht, Hals und Brust herunterlief. Ihr unbedingter Wille zur Perfektion, das Streben nach mehr, wie sie ihre körperlichen Grenzen kannte und doch mit vor Erschöpfung zitternden Gliedern immer weiter hinausschob. Wie sie jede Bewegung voll auskostete, sich bei den Diagonalen durch den Raum fast gegen die Wand katapultierte. Nach dem Unterricht blieb sie noch, bis sie ihre Tours jettés geräuschlos landen konnte, oder übte Dreifach-Pirouetten, bis sie purpurrot angelaufen war. Selbst ihre Unterschrift übte sie, als könnte auch das helfen, ihre Zukunft zu sichern. Noch vor Kriegsende hat sie es bis zur Solistin gebracht.
Und doch – wenn sie an all die Hürden zurückdenkt, die sie nehmen musste, an den erniedrigenden Drill, die strengen Prüfungen, die Verletzungen (ihre empfindliche rechte Kniescheibe und die immer wiederkehrenden Hornschwielen an den Zehen), kommt es ihr wie ein Wunder vor, dass sie es geschafft hat, aus dem trüben Hinterhof ihres Elternhauses, in dem sie noch immer wohnt, bis hierher zu kommen: nicht nur auf die Bühne, sondern in ein neues Leben. Dass sie an einen Punkt gelangt ist – durch Verbissenheit und eisenhartenDrill ebenso wie durch einige glückliche Zufälle –, wo sie ihren Lebensunterhalt mit dem verdienen kann, was ihr am meisten bedeutet.
Es ist Dezember. Winterlich dunkel, wie eine jäh gelöschte Flamme. Seit Wochen schon dezimiert eine Grippe das Ensemble, wie immer ausgerechnet in der endlos langen
Nussknacker -Saison
. Die halbe Kompanie schüttelt sich im Fieber, und bei jeder Pirouette fliegt der Nasenschleim. Heute sind alle drei Hauptrollenbesetzungen krank, und Nina, die kurzfristig als Zuckerfee eingesprungen ist, kommt mit dem Adagio ganz gut zurecht, wenn sie auch einige Schritte improvisieren muss.
Ihr Herz jagt noch immer, als die schweren Vorhänge sich schließen, und dann ist sie wieder in dem kühlen Garderobenraum, den sie sich mit Polina teilt, seit sie beide Erste Solistinnen sind. Polina ist
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