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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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die ersten Westler, die sie je aus der Nähe gesehen hat. Die einzigen ausländischen Städte, die sie bisher besuchen durfte, waren Budapest, Warschau und Prag.
    »Hier, für Sie!«, ruft der stellvertretende Außenminister und drückt ihnen Sektkelche in die Hand. Von seiner Frau, einer untersetzten Person mit einem Fuchspelz um den Hals, geht ein seltsamer Geruch aus, unangenehm und doch vertraut. Ein Parfüm vielleicht? Ninas eigener Veilchenduft verfliegt immer viel zu schnell.
    Jetzt erheben alle am Tisch ihre Gläser. »Auf den Frieden!« Nina stößt mit den anderen an, aber in ihrem leeren Magen gibt es nichts, das den rötlich perlenden Sekt dämpfen könnte. Sie und Polina sind erleichtert, als man ihnen bedeutet, zum Buffet zu gehen. Polina ist hingerissen von den Salaten, dem geräucherten Stör, dem kalten Braten, Weißbrot und Schwarzbrot, den Blinis mit Kaviar und Schmand … Bratäpfel gibt es auch, und in der Mitte der Tafel einen gewaltigen, schon zur Hälfte verspeisten Lachs. Nina knurrt der Magen, obwohl sie Hunger gewohnt ist. Erst vor einem Monat ist die Lebensmittelrationierung aufgehoben worden. Ihre Mutter verdünnt noch immer die Milch und kocht Karottenschalen anstelle von Tee. Vom Markt bringt sie eine hart erkämpfte Handvoll angefaulter Kartoffeln oder schrumpliger Pastinaken nach Hause. Und dann das hier … Ihr Begleiter hat sich zurückgezogen, und sie können unbeobachtet ihre Teller füllen. Nina atmet den unverwechselbaren Duft von Kaffee und rückt den zierlichen Schulterriemen ihrer Handtasche zurecht, um sich eine Scheibe Brot mit echter Butter zu bestreichen. Selbst das Besteck ist prachtvoll, die blankpolierten Messer, Gabeln und Servierlöffel. Ninaverteilt eine großzügige Portion Butter auf ihrem Brot. Übereifrig und hungrig, wie sie ist, zittern ihr die Hände, und das Messer fällt zu Boden.
    »Du Glückliche«, sagt Polina. »Das heißt, du bekommst Besuch von einem Mann.« Das ist nicht der einzige Aberglaube, dem sie anhängt. »Und ich werde heute meinem Traumprinzen begegnen, das habe ich im Gefühl.«
    Nina bückt sich nach dem Messer. »Und was, wenn es nur die Grippe ist, die du fühlst?«
    »Pah! Ich hab ein Gespür für so was. Es liegt was in der Luft, das weiß ich.« Polinas feines Gespür kennt Nina schon: Wenn sie nicht gerade den Atem anhält, liegt ständig etwas in der Luft. »Vielleicht triffst du ja auch deinen«, fügt Polina hinzu, aber es ist ihr anzumerken, dass sie es nicht wirklich so meint. Sie weiß, dass Nina noch keine anderen Küsse empfangen hat als die auf der Bühne, die grell geschminkten Lippen reglos auf die ihres Tanzpartners gepresst. Und obwohl Nina es als Tänzerin gewohnt ist, von Männern berührt, geführt, gehoben, hochgeworfen zu werden, fühlt sie sich selten von ihnen angezogen, von ihren athletischen Körpern – ihren von vielen Prisjadki durchtrainierten Schenkeln und vorgewölbten Brustmuskeln von den ständigen Hebefiguren. Andrei, ihr Adagio-Partner, hat richtige Hammelbeine. Er lässt manchmal seine Gesäßmuskeln spielen, nur um sie zum Lachen zu bringen.
    »Siehst du schon einen?«, fragt Nina – eine rein rhetorische Frage. Alle Männer, die auch nur annähernd in ihrem Alter sind, hat schon vor Jahren der Krieg verschlungen. Die einzigen gesunden jungen Männer, die Nina zu Gesicht bekommt, sind Danseurs im Ballett, und selbst die haben manchmal ihre Zähne an den Skorbut verloren. Die anderen sind gefallen oder, wenn sie einen deutschen Nachnamen trugen, vertrieben worden. Ninas romantische Phantasien sind genau das: pure Phantasie, kindische Träumereien von mutigen Fallschirmjägern, Aeronauten oder Tiefseetauchern, denen sie in Wirklichkeit nie begegnet ist. Sie lässt ihren Blick über die Militärs und Parteifunktionäre schweifen, die Sekretäre, alle doppelt so alt wie sie selbst. Das Dessertbuffet ist eröffnet worden, mit Gebäck und Speiseeis. Nina entdeckt die ausländischen Diplomaten, die sich in ihren maßgeschneidertenAnzügen und adretten Frisuren deutlich abheben und zufrieden speisen. Auch sie kommen natürlich als Traumprinz nicht in Frage. Die Eheschließung mit Nicht-Sowjetbürgern ist seit neuestem gesetzlich verboten.
    Ihre eigenen Landsleute sehen im Vergleich etwas ungepflegt aus, etwas zerknittert, wie nur Männer es sich erlauben können, in Hosen, die an den Fußknöcheln trostlose Falten werfen. Nina beobachtet die Frau des Belgiers, die mit ihren blitzsauberen Schuhen und dem

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