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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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jeder hört. Ihre Kehle ist trocken, ihre Hände sind kalt und klamm. Aus den Augenwinkeln sieht sie reich gefüllte Teller und Gruppen von Männern in dunklen Anzügen, hochrangige Funktionäre. Das Herz scheint ihr direkt zwischen den Ohren zu sitzen. Auch Frauen sind zu sehen, Ehefrauen in langen Abendkleidern. Aber dann gibt der Pianist den Einsatz, und die Gäste verschwimmen am Rand ihres Sichtfelds, als Nina wie von selbst zu tanzen beginnt.
    Erst während Polinas Variation hat Nina Gelegenheit, Luft zu holen, und bemerkt die hohen gewölbten Decken des Saals, das überbordende Buffet, die vielen Kerzen, Laternen und Blumengestecke. Als wären die Kargheit dieser letzten Jahre, die Erschöpfung, der Hunger plötzlich vergessen. Und dass hier jemand wohnt! Selbst während Polinas Auftritt klappert das Besteck, werden Teller neu gefüllt. Die Zuschauer rauchen Zigaretten, schaufeln sich Essen in den Mund, kauen und schlucken und lassen die Gläser gegeneinander klirren.
    Nina bekommt kalte Beine; es zieht in dem Saal. Aber dann beginnt ihr nächster Part, und sie muss sich darauf konzentrieren, auf dem rauen, provisorischen Holzboden nicht über die Fugen zu stolpern. Das Klirren von Porzellan, die offenen Münder. Schon ist es vorbei, absolvieren Nina und Polina ihre sorgsam choreographierten Verbeugungen und werden hastig in ihre Garderobe komplimentiert.
    »Hast du das viele Essen gesehen?«, flüstert Polina und schnürt ihre Schuhe auf. Der schmutzige Boden hat auf ihren Seidenstrümpfen dunkle Flecken hinterlassen.
    Nina nickt. Ihr Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Seit Stunden hat sie nichts gegessen, und als ihr das bewusst wird, fühlt sie sich plötzlich wie ausgehungert.
    »Ein paar von denen kannte ich«, fügt Polina hinzu und schält sich aus ihrem Kostüm. Ihre Arme und Beine sind vor Kälte fleckig gerötet.
    Auch Nina hat einige Gesichter erkannt: den stellvertretenden Außenminister mit dem fransigen weißen Haar und den Vorsitzenden der Kunstkommission. Aber sie haben kaum von ihrem Teller aufgeblickt, haben geschlungen und gekaut, während sie tanzte …
    »Jetzt haben sie uns beide ganz aus der Nähe gesehen«, freut sich Polina, und Nina fragt sich, warum sie nicht genauso empfindet. Ihr eigenes Interesse für Politik ist nie über die Faszination für Militärparaden und Flugschauen hinausgegangen. Sie besucht so wenige Komsomol-Veranstaltungen wie möglich, und als Mädchen gefielen ihr an der Pionierorganisation nur die Volkstanzstunden und die hübschen roten Halstücher. Noch heute muss sie sich jedes Mal dazu überwinden, die obligatorischen Marxismus-Schulungen abzusitzen, und singt selten mit, wenn ihre Truppe im Bus Parteilieder anstimmt. Was hat das alles schließlich mit dem Tanz zu tun?
    Als sie gerade fertig umgezogen ist, klopft ein Bediensteter an die Tür. Nina und Polina sind an den Tisch des stellvertretenden Außenministers eingeladen.
    Polina reißt die Augen weit auf, und Nina greift rasch nach ihrer Handtasche und drapiert sich den Pelz um die Schultern. Wieder schlägt ihr das Herz bis zum Hals, als der Bedienstete sie in den Ballsaal zurückgeleitet. Das funkelnde Licht des Kronleuchters lässt den Raum wärmer aussehen, als er ist, und die Gäste wirken darin weniger blass. Am Tisch steht der stellvertretende Minister, gut gelaunt und mit gerötetem Gesicht, in einer kleinen Gruppe von Leuten und stellt Nina und Polina den Ehrengästen vor. Es sind Belgier. So ein Kleid, wie die Ehefrau es trägt, hat Nina noch nie gesehen. Als die Frau aufsteht, um ihr die Hand zu geben, raschelt der Stoff wie trockenes Laub. »Und das ist Nina Timofejewna Rewskaja. Unser Schmetterling.«
    Er muss den Zeitungsartikel gelesen haben – gerade letzte Woche hat ein Kritiker sie so genannt. »N. Rewskajas Spannkraft, die scheinbareMühelosigkeit ihrer weit ausholenden Spagatsprünge lassen es zuweilen scheinen, als könne sie schweben. Die Vollkommenheit, die jeder ihrer Bewegungen eignet, ist nicht allein physischer, sondern auch emotionaler Natur, ist körperliche und geistige Perfektion zugleich.«
    Die Gäste sagen etwas, das die Dolmetscherin, eine fahrig wirkende, grauhaarige Dame, als Kompliment für Ninas Tanzstil wiedergibt. Schon der Klang dieser fremden Sprache macht Nina nervös; unter normalen Umständen kann noch der flüchtigste Kontakt zu Ausländern eine Begegnung mit dem Geheimdienst nach sich ziehen. Zugleich kann sie nicht umhin, die beiden anzustarren. Es sind

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