Die Tänzerin im Schnee - Roman
in Ninas Alter, hat sommersprossige Haut, pechschwarze Wimpern und einen langen, grazilen Hals. Heute hat sie die Schneekönigin getanzt und trägt Glitter im Haar. Mit zitternden Händen schälen sie sich aus den schweißnassen Strumpfhosen, in höchster Eile; wenn nur die Seide nicht reißt! Ein Beamter aus dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten hat zwei Tänzerinnen für einen Empfang angefragt, und da die Primaballerinen nicht da sind, sollen Nina und Polina dort auftreten.
Erst nach dem morgendlichen Gemeinschaftstraining hat der Intendant sie instruiert: eine ausländische Delegation in der Privatresidenz eines Parteifunktionärs, Abholung durch eine Limousine mit Chauffeur …
»Sie wissen natürlich, was für eine Ehre es ist, vor unseren Staatsführern zu tanzen.«
Natürlich fühlt sie sich geehrt. Die ranghöchsten Tänzer (und Schauspieler, Schriftsteller, Sänger) treten oft bei offiziellen Anlässen auf, und Nina zählt erst seit einem Jahr dazu. Als sie sich eilig wäscht und pudert, ist ihr auch ein anderer Sinn seiner Worte bewusst: Dass es ihre Pflicht ist aufzutreten, dass sie und Polina im Dienst des Staates stehen. Wenn sie nur nicht so müde wäre und die Vorführung nicht so spät abends. Sie hat diese Woche schon ihr doppeltes Pensum absolviert, und ihre mit Kolophonium verkrusteten Schuhe werden bedenklich weich.
»Ich bin so aufgeregt«, sagt Polina und verstaut rosa Strumpfhosen und Beinwärmer in einem Beutel. »Wenn ich nur etwas Besseres anzuziehen hätte.«
»Sie sehen uns ohnehin nur im Kostüm.« Aber auch Nina fühlt sich schmucklos, als sie in ihr einziges gutes Kleid schlüpft. Erst letzte Woche hat ihre Mutter für sie den Mantel auf Vordermann gebracht, mit neuem Besatz an Ärmeln und Saum, aber an den Ellbogen ist er so verschlissen, dass er glänzt. Doch plötzlich kommt ihr eine Idee.
»Sieh an, wo hast du den denn her?« Polina wartet schon abfahrbereit in ihrem eigenen zerschlissenen Mantel und zieht fragend die gezupften Augenbrauen hoch.
»Was glaubst du wohl, woher?« Nina trägt einen weißen, flauschigen Pelz aus dem Kostümfundus um die Schultern. »Ich borge ihn ja nur aus.« Sie schmiegt ihr Kinn an den kleinen Kopf des Tieres und macht sich mit Polina auf den Weg, jede mit einem Kleiderbügel für Kostüm und Schuhe, einer Handtasche für Parfüm und Lippenstift und einem Stoffbeutel für Schuhanzieher, Beinwärmer und Kampferspiritus. Draußen wartet schon ihr Fahrer, ein frierender, mürrischer Mann mit dicken Schulterpolstern.
Es schneit schon seit dem Nachmittag in nassen Flocken, die langsam fester werden. Polina lamentiert lautstark über das Wetter, während sie und Nina im Fond der langen schwarzen ZIS-Limousine dahinrollen. Keine von beiden hat je zuvor in so einem Fahrzeug gesessen. Das einzige private Auto, mit dem Nina bisher gefahren ist, war ein alter deutscher Opel, mit dem der Cousin eines Freundes sie besucht hat, damals, vor dem Krieg. Dieser Cousin muss danach Soldat geworden sein, und Nina fragt sich mit jenem vertrauten flauen Gefühl in der Brust, ob er heimgekehrt oder gefallen ist. Oder vielleicht ist er einer dieser Bettler mit den Arm- und Beinstümpfen geworden, die ihr überall auf den Straßen begegnen. Nina gibt ihnen immer ein paar Kopeken. Sie muss oft an die bekannten Gedichtzeilen denken: »Besser kehre ich mit einem leeren Ärmel zurück / Als mit einer leeren Seele.«
Vor einem gepflegten grauen Steingebäude halten sie an – keine abblätternde Wandfarbe, kein durchhängendes Dach – und ziehen sich kurz darauf schon wieder um, schlüpfen in Seidenstrumpfhosen und steife Tutus, stopfen ihre abgetragenen Spitzenschuhe mit Wachspapieraus. Auf dem Programm stehen Variationen aus dem
Schwanensee
. Noch vor einem Jahr waren die besten Rollen, die Nina bekam, der Tanz der sechs Schwäne oder der vier kleinen Schwäne, aber inzwischen hat sie schon eine der führenden Schwanenrollen übernommen, den Pas de trois im ersten Akt getanzt und die ungarische Braut im dritten. Sie träumt davon, nicht mehr in dem großen Pulk der Mädchen mit den federgeschmückten Haarreifen aufzutreten, nicht mehr in der langen Schlange eingezwängt zu sein, die sich von der vorderen rechten Ecke der Bühne bis zu den Garderoben windet …
Heute ist ein gewaltiger glitzernder Ballsaal ihre Bühne, ein rauer Holzboden, der die spiegelglatte marmorne Tanzfläche bedeckt. Ninas Herz schlägt so wild, dass es an den Tischen ringsum gewiss
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