Die Tänzerin im Schnee - Roman
…«
»Sie wissen natürlich, dass man sich vor Fremden besser in Acht nimmt.« Wieder macht er ein Gesicht, als hätte er gerade einen Witz erzählt.
»Ah, Viktor Alexejewitsch, da sind Sie ja.«
Wladimir Frolow kommt auf sie zu, ein Angehöriger der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher und politischer Kenntnisse. Frolow ist Stammgast im Ballett, ein kleiner, sanft lächelnder Mann mit einem freundlichen, etwas teigigen Gesicht. Das an den Schläfen ergraute Haar trägt er mittig gescheitelt. »Ich wollte Ihnen unbedingt noch gratulieren. Ah, guten Abend, Schmetterling, wie erfreulich, dass Sie noch da sind.« Er nimmt ihre Hand, in der sie noch bis eben die Mandarine gehalten hat, um sie zu küssen, und Viktor erwidert: »Das finde ich auch. Sehr erfreulich.«
»Wussten Sie schon«, wendet sich Frolow an Nina, »dass unser werter Freund exzellente Kritiken für sein neues Buch bekommen hat?«
Nina wagt nicht zu fragen, um was für ein Buch es geht. Offenbar erwartet man von ihr, dass sie es weiß.
»Wirklich exzellente Kritiken«, fährt Frolow fort. »Hüten Sie sich vor dem Mann, Nina, er ist ein Dichter von furchteinflößendem Format.«
Nina sagt einfach, was ihr in den Sinn kommt. »Sie sehen gar nicht aus wie ein Dichter.«
Der Viktor genannte Mann zieht die Augenbrauen hoch. »Und wie sollte ein Dichter Ihrer Meinung nach aussehen?«
»Verträumt«, fällt ihr ein. Viktor und Frolow lachen.
»Oder … zerzaust. Irgendwie entrückt, meine ich.«
»Entrückt sind wohl eher Sie«, lacht Wladimir Frolow. »Nicht wahr, Viktor?«
Viktor nickt bedächtig. »Als seien Sie gerade erst auf einem Sternenfloß hier eingeschwebt.«
»Sehen Sie?« Wladimir Frolow reißt theatralisch die Augen auf. »Ein wahrer Poet.«
»Oder er kann einfach gut mit Worten umgehen«, sagt Nina.
»Worte können wohl eher gut mit
mir
umgehen«, sagt Viktor. »Manchmal lassen sie mir bis in die Nacht hinein keine Ruhe.«
»Jedenfalls«, sagt Nina, »gratuliere ich Ihnen zu Ihrem neuen Buch.«
»Ich gebe Ihnen ein Exemplar.«
»Ach, wissen Sie, ich lese leider überhaupt nicht mehr.« Obwohl sie damit nur die Wahrheit sagt (das Tanzen lässt ihr keinerlei Freizeit), fürchtet sie, provokant zu klingen, und fügt schnell hinzu: »Als Kind habe ich sehr gern gelesen, aber jetzt bleibt mir höchstens noch Zeit für die Aushänge in der Gorki-Straße.«
»Das müssen wir unbedingt ändern.«
Frolow scheint sich darüber zu ärgern, dass er plötzlich aus dem Gespräch ausgeschlossen ist. »Sogar mehr als ein Poet, sehen Sie?«, wirft er ein. »Er hat nicht nur ein geschultes Gehör, sondern ein gutes Auge. Ist Ihnen aufgefallen, wie zielsicher er die schönste Frau im Saal gefunden hat? Aber Sie dürfen sie nicht für sich allein beanspruchen. Kommen Sie, alle beide. Wir machen eine Spritztour durch den Schnee!«
Er führt sie vom Buffet zu einer kleinen Gruppe von Leuten hinüber, die er bereits zusammengetrieben hat. Nina fühlt sich unbehaglich unter so vielen neuen Gesichtern. Eine Opernsängerin ist dabei und noch ein Funktionär wie Frolow, ein Mann vom zentralen Gewerkschaftsbund mit dichtem, ungebändigtem Haar und rosigen Wangen. Seine Frau wirkt wie ein Wesen aus der Vergangenheit mit ihrem schwarzen Spitzenkleid und einer goldenen Lorgnette. Neben ihr steht noch ein größerer, stämmigerer Mann mit gelblichem Schnurrbart, der offensichtlich sehr betrunken ist, ein Charakterdarsteller vom Tschechow-Kunsttheater. »Guten Abend«, grüßen sich alle mit betont gemessener Haltung, und Nina wird schlagartig klar,dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben einer kleinen Gruppe von Privilegierten angehört. Schon allein dieser spontane Beschluss auszufahren, ohne die Vorgaben irgendeiner Organisation, ist ein Privileg.
»Also los, holen Sie Ihre Sachen, auf geht’s.« Wladimir Frolow kramt einen Autoschlüssel aus der Tasche und hält ihn demonstrativ hoch.
Nina holt ihr Kostüm und ihre Tasche und folgt der Gruppe nach draußen auf die weiß bedeckten Straßen. Es fällt immer noch Schnee, inzwischen in winzigen Flocken, die durch die Luft wirbeln wie glitzernder Staub. »Oh!« Nina gerät auf dem vereisten Boden ins Straucheln. Zu ihrer Enttäuschung ist es der stämmige Schauspieler und nicht Viktor, der sie auffängt.
»Sie sind leicht wie eine Feder«, sagt der Mann, und Nina riecht einen Augenblick lang den Alkohol in seinem Atem.
»Da sind wir.« Frolows Gesicht glüht vor Stolz. Vor ihnen steht unter
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