Die Tänzerin im Schnee - Roman
dem Nachtisch angefangen und schenkt sich rasch eine Tasse Kaffee ein. Aber Lida verabschiedet sich schon und eilt zu ihrem Mann.
Während sie nervös ihren Kaffee schlürft, bemerkt Nina, dass sich auch die anderen Gäste anschicken zu gehen. Alle brechen gleichzeitig auf, als folgten sie einer geheimen Choreographie, die Männer mit Bartschatten und Anzügen vom Moskauer Schneiderkombinat und die Ehefrauen, die genauso riechen wie ihre Pelze. Wie bei Aschenbrödel, wenn die Uhr Mitternacht schlägt. Der Kaffee schmeckt nach Zichorie.
Nicht weit entfernt entdeckt Nina eine Frau, die einem siamesischen Bediensteten harsche Befehle erteilt. Vielleicht gehört das Haus ihr und gar nicht dem Außenminister? Oder vielleicht ist auch dies eine Art Theater, wie das Bolschoi, eine prunkvolle Insel, die alle irgendwann wieder verlassen müssen. Nina fällt auf, dass der Vorhang am Fenster gegenüber ausgefranst ist und das Glas zersprungen.
»Njet!«
, faucht die Frau den Bediensteten an, der daraufhin sichtlich verwirrt davoneilt.
Dann sieht Nina, wie Polina an der Seite von Arkadi Lowni den Saal verlässt. Sicher ist auch der gutaussehende Mann schon gegangen, zusammen mit seiner wohlproportionierten Frau. Rasch bestreicht sie noch ein Brot mit Butter und schlingt es in sich hinein, obwohl auch das Essen jetzt wie verdorben wirkt. Lachs und Stör sind völlig zerstückelt, und wo die Desserts standen, zieht sich eine blassrosa Tropfspur über das Buffet. Aus einer hölzernen Schale mit einer hoch aufgetürmten Pyramide aus Mandarinen greift Nina sich eine Frucht undbetrachtet sie. Sie fügt sich genau in ihre Handfläche, die Haut ist kühl und glatt, von einem reinen, leuchtenden Orange. So satte Farben kennt Nina im Winter sonst nur von den
Nussknacker -Kostümen
. Sie muss an ihre Mutter denken, an das ewige Schwarzbrot mit Kohlsuppe und ihr schlaffes Einkaufsnetz mit ein paar kläglichen Wurzeln darin. Rasch blickt sie um sich, öffnet ihre Handtasche und lässt die Mandarine hineinfallen. Dann nimmt sie sich eine zweite und öffnet sie mit dem Daumennagel. Der helle, scharfe Duft ihrer Schale. Nina hält sich die Frucht unter die Nase und atmet tief ein.
»Das hilft gegen Schnupfen, oder?«
Der Mann, der hochgewachsene von vorhin, steht direkt neben ihr. Nina klopft das Herz bis zum Hals bei dem Gedanken, seit wann er sie wohl beobachtet. Aber sie reißt sich zusammen, schält ruhig das nächste Stück Mandarinenschale von dem Fruchtfleisch und reicht es ihm. »Sie müssen nur ein bisschen draufdrücken.«
Er nimmt das Stück Schale so behutsam entgegen, als wäre es Blattgold. Dann faltet er es, riecht daran und schließt die Augen. Seine Nasenflügel weiten sich, er spitzt die Lippen ein wenig, als schliefe er und hätte angenehme Träume. Sofort hat Nina das Gefühl, Zeuge einer sehr intimen Szene zu sein – zu intim dafür, dass sie ihn gerade erst kennengelernt hat. Andererseits ist er vielleicht Zeuge gewesen, als sie die Mandarine eingesteckt hat. Als er die Augen öffnet, blickt sie rasch zu Boden, aus Sorge, er könnte sich beobachtet fühlen.
»Hier, für Sie«, sagt sie, teilt die Mandarine und reicht ihm eine Hälfte. Sie essen schweigend. Als der süße Fruchtsaft ihr auf der Zunge prickelt, ist Nina auf einmal überwältigt von diesem sonnigen Geschmack und von dem Gefühl, an einem Ort zu sein, wo sie nicht hingehört. Und wo ist überhaupt die Frau mit dem goldenen Haar?
Sobald der Mann mit seiner Mandarinenhälfte fertig ist, lächelt er spitzbübisch, als hätten sie gerade zusammen einen Streich ausgeheckt. Sein Grinsen wirkt so verblüffend jungenhaft, vollkommen unbeschwert. So ein Lächeln hat Nina an einem Erwachsenen überhaupt noch nie gesehen. Als hätte er nie die Härten des Lebens kennengelernt, nie gehungert. Selbst seine übereinandergeschobenen Zähne gefallen ihr, weil sie das Einzige an ihm sind, das nicht glatt und ebenmäßig wirkt. Dieser kleine Makel steht ihm, findet sie.
Vielleicht traut sie sich auch deshalb, ihm ihre Frage zu stellen. Sie senkt die Stimme, bis sie leiser als ein Flüstern ist. »Warum gehen denn alle auf einmal?«
Der Mann sieht aus, als würde er jeden Moment loslachen. »Sie sind wohl neu hier.« Etwas leiser fügt er hinzu: »So ist es immer. Man kommt hierher, weil es nun mal Pflicht ist, betrinkt sich, so schnell man kann, und nach dem Nachtisch geht man wieder.«
Seine offene Art zu reden macht ihr Mut. »Aber die Ehrengäste, die Belgier
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