Die Tänzerin im Schnee - Roman
jeden denunzieren, für alles Mögliche. Jede Kleinigkeit. Dafür, dass einer mehr verdiente als sein Nachbar, dass einer die falschen Dinge aussprach, den falschen Witz erzählte. Sie müssen begreifen, wie alltäglich diese Verhaftungen waren. Es gab niemanden, der keinen Inhaftierten gekannt hätte.«
»Wie furchtbar!«
»Großer Gott«, sagte Stephen.
Nina Rewskaja sagte: »Das war die Methode der Regierung, uns einzuschüchtern, wissen Sie, dafür zu sorgen, dass wir gehorchten.«
»Gott sei Dank haben Sie das hinter sich.« Die Reporterin schüttelte den Kopf, wobei ihr golden schimmerndes Haar fast reglos blieb. »Unsere Zuschauer sind sicher auch der Meinung, dass der Schmuck, den Sie mitgebracht haben, auf bewegende Weise Ihre tragische Vergangenheit symbolisiert.«
»Tragisch, ja. Und zwar für Millionen Mitbürger.«
»Bernstein wirkt ganz besonders symbolisch, denn er hält vergangene Augenblicke für die Ewigkeit fest. Bewahrt sie im Harz. Die kleinen Insekten und Gegenstände, die darin gefangen sind, sind schließlich sehr alt, nicht wahr? Also ist das Bernsteinschmuckset mehr als nur hinreißend schön. Es öffnet ein Fenster zur Vergangenheit.«
»So könnte man sagen.«
»Haben Sie irgendeine Vermutung, wer die mysteriöse Person ist, in deren Besitz sich der passende Kettenanhänger zu Ihrem Bernsteinset befindet?«
Drew ertappte sich dabei, sich nach vorn zu lehnen, als würde sie jetzt einen neuen Hinweis bekommen. »Es könnte von sonst wem sein«, sagte Nina Rewskaja nur.
»Wer ist denn
das
?«, fragte Stephen lachend und zeigte auf den Bildschirm.
»Wer?«
»Da hinten am Rand steht jemand, siehst du? Man sieht nur den Arm, aber …«
»Wo? Ach, da.« Am äußersten Rand des Sichtfelds war ein violett bekleideter Arm zu erkennen, von jemandem, der sich langsam ins Bild schob.
»Grenzt es nicht an ein Wunder«, hakte die Dame nach, »dass die Bernsteinkette, die zu Ihrem Set passt, ebenfalls hier in den USA aufgetaucht ist und nicht in Russland?«
»Finde ich auch«, sagte Drew. Am Bildschirmrand waren jetzt Arm und Bein einer Frau zu erkennen, die sich in einem violetten Pullover und schwarzer Stoffhose im Hintergrund herumdrückte. Während Nina Rewskaja sprach, rückte die Person, eine schlanke, dunkelhäutige Frau, immer weiter ins Bild, sah dann direkt in die Kamera und winkte ihr für den Bruchteil einer Sekunde lächelnd zu, bevor sie blitzschnell wieder aus dem Blickfeld verschwand.
»Sie haben Diebstahl als Möglichkeit erwähnt«, sagte die News-4-Reporterin jetzt. »Glauben Sie, dass der Kettenanhänger gestohlen wurde?«
»Das ist äußerst wahrscheinlich«, meinte Nina Rewskaja trocken. »Sehen Sie, das Armband und die Ohrringe hat mein Mann an mich weitergereicht. Sie stammen aus seinem Familienbesitz, aber viele dieser Wertsachen sind während des Bürgerkriegs verlorengegangen.«
»Ach, so ist das also«, sagte Drew. Wenn die Juwelen im Besitz seiner Familie gewesen waren, konnte man deren Namen vielleicht in den Kassenbüchern des Juweliers finden. Warum hatte sie das nicht gleich gesagt? Drew wollte gleich am nächsten Morgen bei ihr anrufen oder sie besuchen und sie bitten, die Namen der Verwandtschaft ihres Mannes in kyrillischen Buchstaben aufzuschreiben, so weit sie sich zurückverfolgen ließen – falls es Drew doch noch gelingen sollte, an die Aufzeichnungen des Herstellers zu kommen. Zu Stephen sagte sie: »Diese Frau macht mich noch wahnsinnig.«
»Du Arme.« Stephen tätschelte ihr spaßhaft die Schulter, zog seine Hand aber schnell wieder zurück, wie um zu zeigen, dass er die Grenzen ihrer Beziehung kannte und respektierte. Wieder wurde es Drew schwer ums Herz. Wenn sich bei ihr irgendetwas regen würde, wollte sie es ja versuchen; aber um so größer wäre die Gefahr, ihn zu verletzen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, für Stephen das zu empfinden, was sie empfinden wollte, dieses Ideal zu erreichen, an dem sie gescheitert war: das Ideal einer echten Liebes- und Lebenspartnerschaft. Sonst hätte sie ebenso gut ihre Ehe mit Eric weiterführen können, ein Leben als bloßes Tandem.
Sie erinnerte sich noch körperlich an das unangenehme Gefühl, ihm entwachsen zu sein, und an den Augenblick, da sie spürte, dass es kein Zurück mehr gab. Angefangen hatte es, als sie ihre erste wirklich gute Stelle antrat, einen solide bezahlten Posten in der Kunst-Abteilung einer Versicherungsgesellschaft. Drew arbeitete als Assistentin des Mannes, der
Weitere Kostenlose Bücher