Die Tänzerin im Schnee - Roman
für die vielen Geschäftsimmobilien des Konzerns Kunstgegenstände einkaufte. Dieser Mann, Roger, war ein stiller, freundlicher älterer Herr und wahrscheinlich schwul, auch wenn er peinlich darauf achtete, von seinem Privatleben so wenig wie möglich preiszugeben. Für Drew war nur wichtig, dass er sie mochte und sie zu vielen seiner Einkäufe mitnahm – nicht nur zu den Antiquitätenhändlern auf der Eleventh Street und zu Auktionen außerhalb der Stadt, sondern auch ins Ausland, zu Kunstmessen in London, nach Athen und Paris, nach Bolivien, in die Türkei und nach Marokko. Das war im Jahr 1996, die Firma zahlte damals umstandslos. Drew merkte, wie sie immer mutiger wurde. Sie fand nichts dabei, allein über Marktplätze zu bummeln, wo das Geplauder der Leute in ihren Ohren kaum bedeutungsvoller klang als Musik. Sie machte ihre Einkäufe pantomimisch, mit Hilfe ihres Schulfranzösischs, auf Sprachführer-Griechisch oder dank spanischer Brocken aus der Sesamstraße, und jeder ihrer kleinen Erfolge machte sie glücklich.
Auf eine ihrer Reisen nahm sie Eric mit, verbrachte in London ein verlängertes Wochenende mit ihm, nachdem sie zwei Tage dort gearbeitet hatte. An ihrem ersten gemeinsamen Vormittag wollten sie mit der Tube nach Bloomsbury fahren, und gerade als sie die Treppe zum Bahnsteig hinunterliefen, öffneten sich die Türen einer Bahn. Mit einem Blick auf das Schild rief Drew: »Das ist unsere!« und sprang rasch in den nächsten Waggon, aber Eric zögerte, fragte: »Bist du sicher?« Und in dem Moment schlossen sich die Türen. Drew formte, eingezwängt im Pulk der Passagiere, mit den Lippen den Namen der Station, an der sie auf ihn warten wollte. Aber als die Bahn sich lautlos in Bewegung setzte, hatte sie dennoch das Gefühl, dass etwas Unwiderrufliches geschehen war.
Rasch schob sie die Erinnerung beiseite und fand sich auf Stephens Sofa vor dem riesigen Fernsehbildschirm wieder. »Ich habe in unseren Bildarchiven nach Fotos von dem Bernsteinschmuck gesucht«,sagte die Reporterin, »aber es waren keine zu finden, auf denen Sie sie tragen. Dafür gab es eine Menge andere großartige Bilder – das von Ihnen mit Jackie Onassis ist absolut umwerfend!«
Als Nina Rewskaja darauf nicht reagierte, fuhr die Frau fort: »Dabei hätte ich zu gern einmal gesehen, wie Sie diese hinreißenden Ohrringe tragen.«
»Sie stehen mir nicht.«
»Wegen der Farbe, meinen Sie?«
»Für so große Steine braucht man ein breites Gesicht, und groß muss man sein. Sonst erdrücken sie einen. Nein, sie waren einfach nichts für mich.«
Im harten Griff des Winters, kalte, graue Morgen, ewige Dämmerung. Manchmal versucht das Bolschoi, Geld zu sparen, indem tagsüber die Heizungen abgestellt werden; Nina übt in Wollstrumpfhosen, langen Strickjacken und mehreren Beinwärmern übereinander, in denen sich ihre Beine dick und schwer anfühlen. Vor Auftritten badet sie ihre Füße in heißem Wasser. Sie hat immer noch nicht wieder von dem Mann namens Viktor gehört, obwohl sie seit über einer Woche auf eine zweite Begegnung hofft. Ihre Zehennägel hat sie perlgrau lackiert und die Sohlen ihrer Ausgehschuhe ausgebessert. Sie hat es sogar geschafft, in einem Gebrauchtwarenladen ein kunstseidenes Kleid aufzutreiben. Jetzt sitzt sie in ihrer kleinen Garderobe und kratzt ein wenig Leder von der Spitze ihrer Tanzschuhe, um die Bodenhaftung zu verbessern. Mit jeder Bewegung der Raspel über das Leder redet sie sich zu, nicht mehr an Viktor zu denken. Sie muss sich konzentrieren, sich vorbereiten: Auf dem Spielplan steht
Dornröschen
, und Nina tanzt die Fliederfee.
Am Schminktisch neben ihr sitzt Polina, die heute die Diamantfee gibt; sie klebt sich falsche Wimpern an und verkündet, sie sei verliebt.
»In Arkadi Lowni?« Nina merkt selbst, wie ungläubig sich das anhört. Sie hat dieses Phänomen oft genug erlebt: Tänzerinnen, die sich möglichst viele »Freunde« aus der Partei angeln, um unabhängig von ihrem künstlerischen Talent Karriere zu machen. Nicht, dass Polina kein Talent hätte. Aber etwas fehlt ihr, diese schwer fassliche Eigenschaft, die man durch noch so viel Übung und Disziplin nicht herbeizwingenkann: Charisma, Bühnenpräsenz, die Aura einer wahren Diva. Polina wirkt immer etwas spröde, überprofessionell, nie ganz natürlich, trotz ihrer starken Beine und formvollendeten Attitudes. Sie tanzt mit den Muskeln, nicht mit dem Herzen.
»Nein, nicht in Arkadi«, flüstert Polina. »In seinen
Freund
.« Sie
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