Die Tänzerin im Schnee - Roman
reißt dramatisch die Augen auf. Nur eines davon trägt lange Wimpern, was das andere seltsam klein aussehen lässt, wie eine Murmel. Sie hat sich ebenso wie Nina bereits geschminkt, so dass ihre Haut fahl und unecht wirkt. »Oleg. Er ist Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium.« Polinas Stimme klingt ehrfürchtig, wie immer, wenn sie von Regierungsangehörigen spricht. Sie wendet sich wieder dem Spiegel zu und klebt mit einem kleinen spitzbübischen Lächeln die zweite falsche Wimper an ihren Platz. »Arkadi hat mich zum Abendessen ins Riga ausgeführt, und sein Freund Oleg war auch dabei. Wie er mich über den Tisch hinweg angesehen hat, Nina … ich kann nur sagen: Da wusste ich es.«
Nina hat jetzt ihren anderen Schuh in der Hand und raut mit schnellen, fast nachlässigen Bewegungen die Spitze auf. »Da wusstest du
was
?«
»Dass zwischen uns etwas passieren würde.«
»Also willst du Arkadi einfach fallenlassen?«
»Na ja, irgendetwas werde ich ihm sagen müssen.«
Einen Augenblick lang sieht Polina mit ihrem langen, schlanken Hals, der hellen Schminke und den langen Wimpern einem Straußenvogel ähnlich. Flüsternd fügt sie hinzu: »Er hat mir sein Zigarettenetui geschenkt.«
»Arkadi?«
»Nein, Oleg!« Sie zieht ein flaches silbernes Etui aus der Schublade ihres Schminktischs, dessen Deckel in der einen Ecke mit einem kunstvollen efeuartigen Muster verziert ist.
Nina betrachtet das Etui und die verschnörkelten Ranken auf dem Deckel. Als sie genauer hinsieht, stellt sie erschrocken fest, dass es gar keine Ranken sind, sondern zwei menschliche Körper: ein Mann und eine Frau, beide nackt und eng ineinander verschlungen. Sicher hat Polina ihr das Etui nur gezeigt, um Nina zu demonstrieren, wie viel erfahrener und reifer sie ist. Nina tut, als hätte sie gar nichts bemerkt, und reicht ihr das Etui zurück.
Stolz legt Polina das Geschenk wieder in die Schublade und verschließt sie. Bei ihrer Beförderung zu Ersten Solistinnen hat man Nina und ihr diese eigene Garderobe zugewiesen, einen kleinen, kalten Raum ohne Fenster. Bröckelnder Putz an den Wänden, viel zu grelles Licht. Hier und da sind Strumpfhosen zum Trocknen aufgehängt. Nina hat oben über ihren Schminkspiegel ein kleines Stickdeckchen drapiert, um ihn ein wenig zu verschönern. An Polinas sind zwei Fotografien befestigt, und auf dem Tisch davor stehen doppelt so viele Kosmetika, als Nina sie hat. Dicke Lippenstifte, eckige Bottiche mit glitzerndem Puder, Lidschatten in allen erdenklichen Farben, Heilsalbe der Marke »Schneeflocke« und ein Tiegel »Persische Heilerde« mit einer geheimen Zutat aus Georgien. An der Wand daneben hängt ein ausgeschnittener Zeitungsartikel von Dr. Jakow Weniaminow, einem Kosmetiker, dessen Empfehlungen Polina mit fanatischem Eifer befolgt.
Die Fundusverwalterin klopft an die Tür, reicht ihnen rasch ihre Kostüme und stapft davon.
»Na schön«, sagt Nina und steigt in ihr lavendelfarbenes Tutu. »Es freut mich, dass du jemand gefunden hast.« Als Polina ihr mit den Haken und Ösen des Mieders behilflich ist, packt Nina das Verlangen, ihr zu erzählen, dass auch sie jemanden gefunden hat, aber inzwischen kommt es ihr schon so vor, als hätte sie alles nur geträumt. Sie hebt ihre Spitzenschuhe vom Boden auf und lässt am Waschbecken kaltes Wasser über die Fersen laufen, damit die Strumpfhose daran haften bleibt. Dann setzt sie sich, legt ihre Zehen aneinander und schiebt den Fuß in einen der Schuhe. Immer fester werden ihre Zehen aneinander gepresst, während sie sie tiefer hineinschiebt, bis zur Schuhspitze, die sie zuvor mit einem Stück Watte gepolstert hat. Sie tanzt diese Rolle zum ersten Mal, und vor ihr liegen Stunden schwerer Arbeit, keine Zeit, an Viktor zu denken … Sie zieht den Schuh hinten über die Ferse und greift nach dem zweiten. Noch während sie die Schnürbänder fest um ihre Fußgelenke wickelt, redet sie sich ein, bereit für den Auftritt zu sein, voll konzentriert. Doch als sie die losen Enden ineinanderflicht und in den Schuhen feststeckt, damit sie nicht herausrutschen, bemerkt sie, dass ihr die Hände zittern.
Die Glocke ertönt. Nina wirft sich ihre Strickjacke über die Schultern, wünscht Polina Hals- und Beinbruch und eilt in die Maske, um sich die violette Blumenkrone im Haar feststecken und ihre Augen fertig schminken zu lassen. Im Übungsraum, wo sie sich aufwärmt, hängt der Geruch von Talkumpuder und Angstschweiß in der Luft. Noch hinter der Bühne, während des
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