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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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inzwischen ein anderes Kleid, bodenlang, aus hier und da etwas verschlissener Seide. Hoheitsvoll, wenn auch schwach auf den Beinen, steht sie am hölzernen Tisch und lässt sich von Viktor einen Stuhl unterschieben. »Danke sehr, mein Lieber.« Mit hängenden Mundwinkeln und zusammengekniffenen Augen mustert sie Nina, die den Blick leicht gesenkt hält. Sie, Viktor und Madame trinken Tee und essen klebriges Gebäck.
    »Das Tafelsilber halte ich immer gut versteckt«, sagt Madame zu ihr. »Überall Diebsgesindel. Besonders diese Armenier von nebenan. Die hatten alle unsere Gabeln mitgehen lassen. Zum Glück habe ich sie wiedergefunden, sonst müssten wir mit den Fingern essen.«
    Viktor wirft Nina einen heimlichen Blick zu und schüttelt den Kopf. Unwillkürlich besieht sie ihre Gabel, bezweifelt aber, dass sie aus echtem Silber ist. Betont konzentriert macht sie sich an ihrem trockenen Kuchenstück zu schaffen.
    »Ich habe mir mal ihr Zimmer angesehen«, fährt Madame fort. »Bis oben hin voll mit
unserem
Mobiliar. Der große Standspiegel zum Beispiel, das war ein Geschenk meines Vaters an meine Mutter. Oh, aber sie behaupten natürlich, das sei alles gar nicht mehr da, alles verschwunden. Sogar das Klavier.«
    Nina weiß nicht, wie sie darauf reagieren soll. »Können Sie … haben Sie Klavier gespielt?«
    Madame legt horchend den Kopf schief, und Viktor wiederholt die Frage.
    »Man hat mir immer gesagt, ich könnte Konzertpianistin werden, wenn ich nur wollte«, sagt Madame. »Aber in Wirklichkeit war Sonja viel talentierter als ich. Meine Schwester. Sang wie eine Nachtigall. Wahrscheinlich dachten die Leute deshalb, ich könnte gut Klavierspielen, weil sie sich von ihrer Stimme haben irre machen lassen.« Aus ihrem Zimmer ist ein lautes Krächzen zu hören. »Lola hat auch eine sehr schöne Stimme, wenn sie nur will.«
    »Was für ein Vogel ist das?«
    »Ein nervtötender Vogel«, sagt Viktor und lacht.
    »Ein Ara«, sagt Madame. »Aus Südamerika. Ein Geschenk von meinem Ehemann.«
    Nina ist verwirrt. »Aber dann … dann muss er sehr alt sein.«
    »Zweiunddreißig«, sagt Viktor zu ihrer Verblüffung. »Älter als ich selbst. Er zählt die Jahre immer noch nach dem Julianischen Kalender, so wie meine liebe Frau Mutter auch.« Er lächelt vergnügt. »Frag bloß nicht, wie das Vieh es so lange geschafft hat.«
    »Solche Tiere können bis zu siebzig Jahre alt werden«, erklärt Madame stolz, und Nina ertappt sich dabei, auf ein erneutes Kopfschütteln von Viktor zu warten. Aber es kommt nicht; offenbar sagt Madame die Wahrheit. Siebzig Jahre. So wenige Menschen erreichen dieses Alter.
    »So wie ich«, fährt Madame fort. »
Wir
sind eben aus guter Familie.« Ihre Betonung macht deutlich, dass man das von Nina nicht behaupten kann. Nun, immerhin hat Viktor sie ja gebeten, sich vor Augen zu führen, wie schwer es für seine Mutter gewesen sein muss, sich praktisch über Nacht umzustellen.
    »Lola wird immer an meiner Seite sein«, sagt Madame. »So hat es mein lieber Ehemann gesagt, als er sie mir gab.«
    »Dann musst du ja hundertzehn Jahre alt werden«, sagt Viktor.
    »Ich sterbe nicht, bevor ich Enkelkinder habe. Das hat mein lieber Vater immer zu mir gesagt: Ich verlasse diese Welt nicht, bevor ich nicht einen Enkelsohn habe.«
    Viktor tut sich noch ein Stück Kuchen auf. Er scheint sich gar nicht an dem Vorwurf zu stören, der in ihren Worten liegt – dass es auf irgendeine Weise seine Schuld ist; dass er zu spät gekommen ist.
     
    »Grigori Solodin möchte Sie sprechen.«
    Ellen, die Empfangsdame, überfiel Drew mit dieser Nachricht, sobald sie den Fuß zur Tür hereinsetzte. »Er ist jetzt oben und schaut sich die Galerie an, aber er wollte zu Ihnen.«
    »Lassen Sie mir nur ein, zwei Minuten Zeit aufzutauen, dann können Sie ihn reinschicken.« In ihrem Büro rieb sie sich die Hände warm und wackelte mit den Zehen, bis das taube Gefühl verschwunden war.
    Er klopfte leise an den Rahmen ihrer offenen Tür. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Miss Brooks.«
    »Gar nicht, ich habe gerade Pause gemacht. Bitte, setzen Sie sich.«
    Er kam etwas zögernd herein; dabei war er eine eindrucksvolle Erscheinung – groß und breitschultrig, mit einem angenehmen Gesicht. Als er sich setzte, bemerkte sie einen leichten Zigarettengeruch, nicht aufdringlich nach kalter Asche, sondern den sanften, fast süßen Duft von Tabak. »Ich war gerade in der Nähe«, begann er etwas unbeholfen, »und da dachte ich, ich schaue

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