Die Tänzerin im Schnee - Roman
Badeanstalt zu gehen. Und obwohl sie neuerdings auch für Nina kocht und putzt, sieht sie eindeutig Madame als ihre eigentliche Dienstherrin an. Als Nina ihren Lohn erhöht, weil sie jetzt für drei Menschen arbeitet, wirkt Darja völlig verdattert. Aber Nina ist keine gute Köchin und sehr dankbar für ihre Hilfe.
Madame wirkt mittlerweile jedes Mal empört, Nina immer noch in ihrer Wohnung anzutreffen, als wäre sie eine Besucherin, die ihre Gastfreundschaft überstrapaziert. Es ist, als hätte Madame bei ihrer ersten offiziellen Begegnung den Großteil ihrer Höflichkeit und Geduld verausgabt und hätte jetzt für den alltäglichen Gebrauch nur wenig davon übrig. Nina arbeitet zwar die meiste Zeit und kommt fast nur zum Schlafen nach Hause, dennoch gibt nur Madames schlechtes Gehör ihr das Gefühl, so etwas wie Privatsphäre zu besitzen. Immer wieder ist Madame kränklich, ständig indisponiert. »Nicht so laut, bitte, ich fühle mich so grippal«, sagt sie schwer atmend, mit hochrotem Kopf. Dann wiederum verkündet sie, sie spüre ihren Herzschlag nicht mehr. »So ist es schon den ganzen Tag; jetzt geht es zu Ende mit mir.« Wenn Nina Zweifel an ihrer Diagnose äußert, kneift Madame die Augen zusammen, streckt ihr beide Handgelenke entgegen und sagt: »Bitte, versuch doch selbst, meinen Puls zu fühlen.« Manchmal schafft sie es sogar, Viktor vom Ernst ihrer Lage zu überzeugen, aber Nina ist sich jedes Mal sicher, dass diese Inszenierungen nur dazudienen, seine Aufmerksamkeit von wichtigeren Dingen abzulenken, von ihr zum Beispiel.
Manchmal ist Madames Haar adrett frisiert, ist der voluminöse Knoten fest und ordentlich zurechtgesteckt. Doch dann gerät ihre Erscheinung allmählich wieder aus den Fugen, wenn der Vogel ihr auf dem Kopf herumklettert, an dem Schildpattkamm knabbert und ihr Kleid mit Kalk bekleckert – so anders als Viktor, der immer frisch rasiert ist, regelmäßig zum Friseur geht, sich täglich die Stiefel poliert und seine Hemden in der chinesischen Wäscherei reinigen und bügeln lässt.
Besonders gern sitzt Madame am hölzernen Esstisch und inspiziert ihr Tafelsilber. Lola hockt dabei auf ihrer Schulter und pickt nach den Knöpfen auf Madames Brust. Alles, was glänzt, zieht sie magisch an, auch Madames Perlenohrringe und das dünne Glas ihrer Lorgnette. An das leise Tack-tack-tack von Lolas Schnabel hat sich Nina längst gewöhnt, ebenso an ihre Krächzgeräusche. Der Vogel ist mitunter sehr mitteilsam, sagt »Guten Tag« und »S’il vous plaît« und zwitschert laut. Wenn Madame dann ebenfalls die Stimme erhebt, schimpfen die beiden im Duett wie zwei unglückliche alte Tanten.
An ihren gesprächigeren Tagen schwelgt Madame in Erinnerungen an ihre Kindheit, eine Kindheit mit Koch, Haushälterin, Hauslehrer und Kindermädchen. Sie beschreibt Darja bis ins Detail das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, die Türknäufe aus Kristallglas und die Ölbilder, die in schweren geschnitzten Rahmen an den Wänden hingen. Sie durchstreift im Geiste die Räume ihres früheren Zuhauses und verharrt unterwegs bei jeder ihrer geliebten Kostbarkeiten: dem kristallenen Briefbeschwerer von Orest Kurlinkow, dem Sassikow-Silberkandelaber, dem Sonnenschirm mit Emailgriff von Fabergé. Manchmal sieht auch Nina das, was sie schildert, lebhaft vor sich: ein eigenes Zimmer für jede Gelegenheit, Bibliothek, Musikzimmer, Esszimmer. Sie folgt Madame durch verglaste Türen in einen mit efeuberankten Seidentapeten dekorierten Salon, in die riesige Küche, in der nur die besten Filets verarbeitet werden, und auf den Balkon hinaus, der aus luftiger Höhe ein großzügig bemessenes Grundstück überblickt. »Und als wir zurückkamen, war kein einziges Gemälde mehr da. Diese wunderschönen Bilder. Ich bin damals mit den Augenin sie eingetaucht, wie man einem Pfad in den Wald hinein folgt.« Einen Moment lang ist ihr der Verlustschmerz deutlich anzusehen. »Das ganze Haus voller Bauernlümmel. Überall standen dreckige Stiefel herum. So was von ungehobelt. Man konnte sie sogar durch die Wände riechen, weil sie sich nie gewaschen haben. Genau wie die Armenier. Dieses Diebsgesindel.« Dabei fällt es ihr wieder ein, und sie fährt fort, das Besteck zu zählen.
Auch Ninas Mutter verstaut Besteck und Kochgeschirr immer im eigenen Zimmer und lässt nicht einmal einen harten, rissigen Barren Seife irgendwo liegen, wo andere Mieter ihn stehlen könnten. Madames Verhalten ist, wenn man es so betrachtet, gar nicht so
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