Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
ungewöhnlich – alle horten sie Seife, Salz und Petroleum und misstrauen einander, selbst Nina, wenn sie ehrlich ist. Anders als die anderen äußert Madame ihre Beschwerden jedoch laut und unverblümt, so wie Ninas längst verblichene Großmutter es noch getan hat, wie alle alten Großmütter. Die letzten ihrer Art.
    »Geht sie denn nie aus?«, fragt Nina Viktor ungefähr drei Monate nach ihrer Hochzeit. Sie versucht immer noch, sich zusammenzureimen, wie sehr Viktor seine Herkunft geheimhält und ob er von ihr erwartet, anderen gegenüber zu schweigen. Denn Viktor spricht zwar nie in der Öffentlichkeit darüber, hat sie aber auch noch nie ermahnt, sich zurückzuhalten, und macht sich offenbar keine Sorgen darum, was Darja weitererzählen könnte. Vielleicht bewahrt ihn sein literarischer Ruhm davor, wegen seiner Familie angefeindet zu werden. Schließlich kann er nichts für sein Erbe. »Ich habe sie noch nie das Haus verlassen sehen.« »Früher bin ich manchmal mit ihr spazieren gegangen, aber das hat sie immer furchtbar aufgeregt. Sie mag die Welt da draußen einfach nicht.« Er scheint nachzudenken. »Sie benutzt immer diesen Ausdruck …
gewöhnlich
. Sie kommt nicht damit zurecht, da draußen, du weißt schon, Betrunkene zu sehen. Unschöne Szenen. Unangemessenes Verhalten. Das hat eben mit ihrer Erziehung zu tun; niemand behandelt sie so, wie sie es ihrer Meinung nach verdient hätte.«
    Schließlich ist sie auf einem privaten Anwesen aufgewachsen, ist weit gereist und beherrscht Fremdsprachen und Musikinstrumente. Kein Wunder, dass sie sich an ihren früheren Titel klammert, an ihrenStolz, ihre uralten seidenen Kleider. In gewisser Weise, denkt Nina, gleicht sie den Kriegsinvaliden, die nach so vielen Jahren noch immer jeden Sonntag in Uniform durch die Stadt paradieren, um ihre Orden und ihre Versehrungen zur Schau zu stellen. Als wollten sie alle Welt – vielleicht auch nur sich selbst – an das erinnern, was sie einmal waren.

 
    Los 34
    Chromdiopsid-Ohrstecker, Rundschliff, je 1,00 ct., 5 x 5 mm. Fassung
und Stecker aus 14 kt. Gelbgold, Reinheit VVS. 800 –1000
Dollar

KAPITEL 7
    G egen sechs Uhr streckte Evelyn ihren blonden Schopf zur Tür herein. »Ich mache mich nur schnell frisch, dann können wir los.«
    »Wann immer du willst.«
    Die anderen Mitarbeiter des Fremdspracheninstituts waren schon gegangen, aber Grigori hatte die Zeit genutzt, um drei Seminararbeiten seiner Studenten zu benoten. Heute wollte er es nicht riskieren, allein zu Hause zu sein. Er hatte sich sogar morgens beeilt loszugehen und es nicht einmal gewagt, das Radio anzumachen weil er vermeiden wollte, mit anzuhören, wie alle einander Songs widmeten und Grüße schickten. Das hätte ihn nur wieder dazu gebracht, alles zu vermissen. Ja, alles. Er vermisste das Geräusch, mit dem die Tür ins Schloss fiel, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kam. Er vermisste all die vielen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter – sie hatte so viele Freunde gehabt –, von Barb, die anrief, weil ihr uralter Mops Bowie gestorben war, oder von Amelie, die sagte, sie wäre nächste Woche in Boston und würde gern mit ihnen im Fairmount einen trinken. Er vermisste Christines Buchclub-Treffen, die fröhliche Runde, die dann im Wohnzimmer so ausgelassen plauderte und lachte, dass er sie beneidete, und sich über Dinge austauschte, die ihn manchmal fast schockierten: kein Thema, ob körperlich oder geistig, schien zu intim zu sein, als dass man es nicht bei einem Glas Weißwein und einer Käseplatte hätte diskutieren können. Er vermisste es, ihr die Stufen hoch ins Schlafzimmer zu folgen, sie auszuziehen und genüsslich mit ihr zu schlafen, vermisste diese spontanen kleinen Abenteuer, die er als heimliches Privileg verheirateter Menschen kennen- und lieben gelernt hatte.
    Natürlich wusste er selbst, was von solchen Erinnerungen zu halten war: Sie sagten nicht die ganze Wahrheit; sie sparten schonungsvoll jene anderen Momente aus, in denen Christine und er sich über jede Kleinigkeit stritten, die Nähe des anderen kaum ertragen konnten und Dinge sagten – unwiderrufliche, schmerzhafte Dinge –, dienoch lange danach wie ein übler Geruch in der Luft hängen blieben. Und ereignislose Zeiten gab es auch. Aber selbst der Streit, die Reibereien hatten sie auf ihre Weise miteinander verbunden, hatten ihre Gefühle wach gehalten, selbst wenn sie einander phasenweise gleichgültig wurden, wenn sie einander satt hatten und dann wieder

Weitere Kostenlose Bücher