Die Tänzerin von Darkover - 9
»Ein häßliches altes Weib, das kleine Kinder tötet, schmort und verschlingt. Sie opfert junge Mädchen, um ihre Dämonen zu besänftigen. Jäger führt sie in die Irre, macht ihre Waffen unbrauchbar und läßt Bäume auf sie herabstürzen. Ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen, sie ist das Böse schlechthin. Ich kenne eine alte Frau, die die Hexe einmal gesehen hat …« Was tat sie denn da? Sie redete doch nur mit einem Pony, das sich weder um Märchen scherte, noch sich davor fürchtete.
Amilha setzte sich hin und rieb sich die Schläfen. »Wenn ich ehrlich bin, mein Freund, dann kenne ich keinen einzigen, der die Hexe je zu Gesicht bekommen hat. Ich habe immer nur Geschichten darüber gehört.« Und wenn sie es sich recht überlegte, konnte sich Amilha an nichts erinnern, das sie der Hexe tatsächlich zuschreiben konnte.
Märchen, nichts als Märchen.
Der Wind rauschte in den Bäumen, und die Geräusche des nächtlichen Waldes wiegten sie in den Schlaf. Sie wählte das mächtige Wurzelwerk eines großen, alten Baumes als Lager und verkroch sich in einer schützenden Kuhle. Am Himmel über ihr standen die vier Monde Darkovers, die ihr wie zauberhafte Wächter erschienen. Es war das letzte, woran sie sich erinnern konnte, bevor sie einschlief.
Im Traum begegnete ihr Bard. Sie war wieder auf der Burg, und er schlich sich an sie heran. Sie wollte fliehen, aber wie angewurzelt blieb sie stehen. Die Angst wuchs zu einem Ungeheuer an, hielt sie in seinen Klauen, raubte ihr Sinn und Verstand. Amilha kämpfte hilf- und hoffnungslos dagegen an. Bard packte sie am Arm.
Plötzlich befanden sie sich in einem Tal. Zwischen ihnen stand eine Eiche, versperrte ihm den Weg. Bard versuchte, um das Hindernis herum zu laufen, aber Amilha ließ einen der unteren Äste hervorschießen – der Trieb schlang sich um Bards Hals und erdrosselte ihn. Er lief tiefrot an und seine Augen quollen hervor.
Eine alte Frau tauchte auf und schaute abwechselnd Bard und Amilha an. Ihr zahnloser Mund verzog sich zu einer Grimasse. »Es steht in deiner Macht, dies zu vollbringen«, krächzte die Alte. »Oder aber dies …« Und Amilha sah im Traum, wie sie einen verwundeten Hirsch heilte. »Es ist deine Entscheidung. Was wirst du wählen?«
Und das Gelächter der Hexe hallte durch das ganze Tal.
Amilha schreckte aus dem Traum hoch. Sie hatte geglaubt, sie würde Bard umbringen, wenn sie dazu die Möglichkeit hätte. Jetzt hatte sie es zumindest im Traum getan, hatte von der Tat keine abstrakte Vorstellung mehr, sondern ein konkretes Bild vor Augen.
Und das ließ sie erkennen, daß sie nie fähig wäre, ihre Macht so zu mißbrauchen wie es Bard tat. Sie seufzte. So restlos zufrieden war sie mit sich und ihrer Entscheidung nicht; sollte sie denn ganz auf Rache verzichten?
Die rote Sonne stand schon seit mehreren Stunden am Himmel und hatte längst den Morgentau verdunsten lassen. Amilha stöhnte:
»Sag mal, Kleiner, bist du auf mir rumgetrampelt, während ich geschlafen habe? Ich fühle mich wie ein Tanzboden nach dem Mittwinterfest.« Ausgeruht, aber mit steifen Gliedern, erhob sie sich langsam von ihrem ungemütlichen Nachtlager.
Das Pony rupfte unbekümmert Gras, was Amilha daran erinnerte, daß sie selbst noch nichts im Magen hatte. Während sie ein paar getrocknete Früchte kaute, überlegte sie, wie die Reise weitergehen sollte.
Ich muß nach Osten reiten, um die Schwesternschaft vom Schwert zu finden. Man sagt, daß sie sich manchmal auf die Insel des Schweigens zurückziehen, um sich der Heilkunst zu widmen. Vielleicht könnte auf der Insel eine Heilerin mich darin unterweisen, mein Laran auf diese Art und Weise zu gebrauchen. Dann mußte sie wieder an Bard denken. Voller Abscheu schüttelte sie diese Gedanken schnell wieder ab und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Wenn ich ostwärts nach Marenji und zur Insel des Schweigens reite, treffe ich unterwegs vielleicht eine Schwertfrau, der ich mich anschließen kann. So ganz wohl war ihr nicht bei der Vorstellung, mit einer Gesetzlosen zu reisen.
Zumindest hatte sie immer sagen hören, diese Frauen seien gesetzlos. Sie haben kein Schamgefühl. Schneiden sich die Haare ab und tragen Hosen!
»Was werden sie wohl von mir halten, wenn sie mich so sehen?«
Die Aussichtslosigkeit ihrer Lage lastete schwer auf ihren jungen Schultern. Sie zwang sich zu einem traurigen Lächeln und versuchte, sich davon nicht ganz unterkriegen zu lassen. Sie nahm das Pony beim Zügel, orientierte
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