Die Taeuschung
er.
»Ich habe ihn beauftragt, meine Wohnung zu verkaufen.«
Das überraschte ihn nun so, daß er seinerseits den Löffel
weglegte. »Du willst deine Wohnung verkaufen?«
»Ja. Viel werde ich dafür ja leider nicht bekommen, aber der
Makler meint, vielleicht doch ein bißchen mehr, als ich
hineingesteckt habe. Dann habe ich ein wenig Kapital.«
»Ja, aber – warum?«
Sie schaute an ihm vorbei zur Wand, saugte sich an einem
Arrangement aus Strohblumen fest, das dort hing und unter
einer Schicht von Staub einen einheitlich grauen Farbton
angenommen hatte.
»Ich möchte dort nicht mehr leben. Die Wohnung ist häßlich
und trostlos, und ich habe mich nicht eine Minute lang dort
wohl gefühlt. Außerdem wird es Zeit, daß ich ...«
»Was?«
»Daß ich mein Leben ändere«, sagte sie, und die
Trostlosigkeit in ihrer Stimme verriet, daß sie genau wußte, mit
dem Verkauf der Wohnung allein würde es nicht getan sein,
daß es darüber hinaus aber sehr wenige Möglichkeiten für sie
gab, einen echten Wandel herbeizuführen, »dafür wird es
allerhöchste Zeit.«
Einen Moment lang geriet er in echte Panik. Was, zum
Teufel, hatte sie vor? Was bedeutete in diesem Zusammenhang
die Frage, die sie soeben noch gestellt hatte? Kommt Nadine
hierher zurück?
Wollte sie ... glaubte sie etwa ...?
Aber schon im nächsten Moment befreite sie ihn von dem
beängstigenden Bild, das sich ihm aufgedrängt hatte.
»Ich werde fortgehen.«
»Fort?«
»Ja, fort. Irgendwohin. Vielleicht in die Normandie, in das
Dorf, in dem unsere Tante gelebt hat. Immerhin ...«
»Ja?« Ihm wurde bewußt, wie einsilbig und stupid er sich
anhören mußte mit seinem ständigen Warum?, Was?, Fort?,
]a?, aber aus irgendeinem Grund war er im Augenblick nicht
in der Lage, einen vernünftigen, zusammenhängenden Satz zu
bilden.
»Immerhin fühle ich mich dort nicht ganz verloren: Ich bin
oft dort gewesen, und ich weiß schon ein bißchen Bescheid.
Den Pfarrer kenne ich recht gut, und ein paar Freunde unserer
Tante erinnern sich vielleicht noch an mich, und ich ... na ja,
ich wäre nicht ganz alleine.«
Sie biß sich auf die Lippen, denn auch ihr war natürlich,
genau wie Henri, bewußt, daß die Freunde der Tante, wenn sie
überhaupt noch lebten, um die neunzig Jahre alt sein mußten
und sicher nicht das waren, was sich eine Frau von Anfang
dreißig normalerweise unter Freunden vorstellte.
»Ach, Cathérine«, sagte er hilflos, und im nächsten
Augenblick schämte er sich zutiefst, denn ein Gefühl
unendlicher Erleichterung überschwemmte ihn, so daß er sich
als unanständig und kaltherzig und egoistisch empfand. Er
würde frei sein! Frei von dieser Frau, die, dick und häßlich und
vom Leben benachteiligt, an ihm klebte, seit er denken konnte,
und die er nicht abschütteln durfte, weil sie niemanden hatte als
ihn. Natürlich war sie treu und fleißig gewesen, war
eingesprungen, wann immer er sie rief, aber was alles hatte sie
dafür verlangt: Zuwendung, Ansprache, Zugehörigkeit. Wie
wenig hatte Nadine sie gemocht, und war das nicht nur allzu
verständlich? Welcher Frau hätte es gefallen, die Cousine des
Mannes gewissermaßen mitheiraten zu müssen?
Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen in diesem Moment,
daß Cathérine der Störfaktor in seiner Ehe mit Nadine gewesen
war, verantwortlich für alles, was schiefgelaufen war. Ihr
Rückzug bedeutete die große Chance eines Neuanfangs.
»Cathérine«, sagte er, und er hoffte, sie konnte nicht lesen,
was in seinen Augen stehen mußte, »willst du das wirklich
tun?«
Sie musterte ihn mit einer eigentümlichen Kälte, die er noch
nie an ihr wahrgenommen hatte, und er ahnte, daß sie durchaus
begriff, was in ihm vorging. Sein Gefühl der Scham wurde
noch stärker, aber auch das Gefühl der Hoffnung.
»Ich bin ganz sicher, daß ich das tun werde«, antwortete sie,
»denn welche andere Möglichkeit habe ich schon? Das
sogenannte Leben, das ich hier führe, ist kein Leben. Es ist ein
erbärmliches Dasein, einsam und unerfüllt, und nun, nach
allem, was geschehen ist, auch noch hoffnungslos. Du wirst nie
von Nadine lassen, und ich kann es nicht aushalten, noch
länger in deiner Nähe zu leben. Du weißt, daß ich mich immer
nach dir verzehrt habe, aber was mich jetzt forttreibt, ist nicht
dieses schreckliche Sehnen, von dem ich mich nie werde
befreien können, sondern der Schmerz, mit anzusehen, wie der
Mann, der mir alles bedeutet, an einer Frau festhält, die ...« Sie
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