Die Taeuschung
biß sich auf die Lippen, sprach den Satz nicht zu Ende, wohl
wissend, daß er ein abwertendes Urteil über Nadine noch
immer nicht hinnehmen würde.
»Wir brauchen wohl nicht mehr darüber zu reden«, sagte sie,
»du kennst meine Gedanken und Gefühle zur Genüge.«
Und ob er sie kannte! Wie oft hatte sie über Nadine
gesprochen, hatte sie meist auf subtile, eher unangreifbare Art
angeklagt, war dann zwischendurch aber auch heftig geworden,
hatte ihn in aller Deutlichkeit wissen lassen, was sie von seiner
Frau hielt. Welch ein schrecklicher, untragbarer Zustand, und
er fragte sich jetzt voller Ratlosigkeit, weshalb ihm dies nicht
früher aufgefallen war. Warum hatte er gewartet, bis sie ihn
beendete?
»Ich werde dich besuchen«, sagte er, aber er wußte, daß
schon die bloße Absichtserklärung eine Lüge war, und
Catherine wußte es auch.
»So häufig, wie du unsere Tante besucht hast«, erwiderte sie
spöttisch, und er senkte den Kopf, weil auch dies eine
Verfehlung war in seinem Leben, und noch dazu eine, für die
er Geld bekommen und angenommen hatte. Aber trotz dieses
berechtigten Vorwurfs konnte er nicht aufhören, sich zu freuen,
und während sie langsam weiteraßen, schweigend und mit
ernsten Gesichtern, breitete sich jubelndes Glück in ihm aus,
eine tiefe Vorfreude auf das neue Leben mit Nadine. Er trug
den nächsten Gang auf und schwelgte in Bildern zu künftiger
Harmonie, aber er wurde jäh aus seinen Träumen gerissen, als
es nachdrücklich an der Tür klopfte.
»Wer kann das sein?« fragte Cathérine.
Es waren Bertin und Duchemin. Sie wollten wissen, wo
genau Henri am Samstag, dem 6. Oktober, abends gewesen
war.
Und wen er als Zeugen für seine Aussage benennen konnte.
8
Am unerträglichsten wurde schließlich der Durst, obwohl
Monique bereits ahnte, daß der Verlust des Zeitgefühls sie über
kurz oder lang in den Wahnsinn treiben würde, aber vermutlich
würde der Durst sie vorher erledigen. Sie hatte gehofft und
gebangt, Stunde um Stunde – ohne zu wissen, wie lang eine
Stunde war und wann sie aufhörte –, daß ihr Peiniger
auftauchen und ihr etwas zu essen und zu trinken bringen
würde, aber schließlich mußte sie sich mit der furchtbaren
Einsicht vertraut machen, daß er nicht vorhatte, bei ihr zu
erscheinen, ehe sie nicht tot war und ihre Leiche verschwinden
mußte. Ihre Theorie, er werde sie zumindest am Leben halten,
bis er wußte, wer ihr seine Handy-Nummer genannt hatte,
schien sich nicht zu bewahrheiten. Er wollte sie töten, aber aus
irgendeinem Grund hatte er beschlossen, sie nicht zu erwürgen
wie Camille und Bernadette. Er würde einfach warten, bis sie
in diesem Keller verreckt war.
An diesem Punkt ihrer Überlegungen hatte sie zu weinen
begonnen und sich gefragt, warum dies jetzt hatte passieren
müssen, da sie gerade ein neues Leben hatte beginnen wollen.
Sie erinnerte sich an das Gefühl von Glück und Entspanntheit,
das sie am Morgen erfüllt hatte – an diesem Morgen, am
gestrigen Morgen? –, und es erschien ihr so ungerecht, daß nun
etwas so Schreckliches geschehen mußte, aber im nächsten
Moment weinte sie noch heftiger über der Gewißheit, daß das,
was mit ihr passierte, so außerhalb alles Vorstellbaren lag, daß
es immer schrecklich und nicht zu verkraften gewesen wäre.
Irgendwann versiegten ihre Tränen, weil die Kraft sie
verließ. Sie hatte zuvor an der Wand gelehnt, war dann aber
langsam hinuntergerutscht und fand sich nun gekrümmt wie ein
Embryo auf dem Fußboden wieder, halb erstarrt vor Kälte und
mit einem wattigen Gefühl im Mund, als sei mit den Tränen
der letzte Rest Feuchtigkeit aus ihrem Körper gewichen. Sie
rappelte sich auf, schniefte in die Dunkelheit und machte sich
klar, daß sie ihrem Entführer in die Hände arbeitete, wenn sie
die Nerven verlor und sich aufgab.
»Ich muß überlegen, was ich als nächstes tue«, sagte sie laut.
Ihr fiel ein, daß sie Gläser und Dosen auf dem Holzregal
ertastet hatte, und bei der Vorstellung, dort könnten sich
eingemachte Früchte befinden, deren Saft sich trinken ließe,
krabbelte sie sofort los in die Richtung, in der sie das Regal
vermutete. Da der Raum so klein war, stieß sie schon sehr bald
unsanft mit dem Kopf gegen eines der Bretter, stemmte sich
auf ihre Knie hoch und tastete hastig in den Fächern herum,
getrieben von der Gier dessen, der in der Wüste eine Oase
wittert. Ihre zitternden Finger bekamen ein Glas zu fassen und
hoben
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