Die Täuschung
schrecklicher Einsamkeit, das in mir aufstieg, wenigstens halbwegs zu unterdrücken. Denn nun war ich in der Tat allein: allein auf eine Art, die für mich in früheren Zeiten unvorstellbar gewesen wäre und die mich schlagartig veranlasste, die moralischen Prinzipien in Frage zu stellen, die mich in eine solch wenig beneidenswerte Position gebracht hatten.
Die folgenden Tage waren noch verworrener und bizarrer. Wohin ich auch ging – in Restaurants, Bars, Hotels –, in sämtlichen Medien waren die Katastrophe von Moskau, deren Nachwirkungen und die laufenden Untersuchungen das beherrschende Thema, und immer wieder gab es Berichte über das geheimnisvolle Flugzeug, das Gerüchten zufolge den Selbstmordbomber auf seiner Mission begleitet hatte. Diverse militärische Nachrichtendienste und Polizeikräfte glaubten, ich sei in diesem Flugzeug gewesen, und mein Bild – wie auch Bilder von Slayton, Larissa und dem armen, toten Leon – flimmerte mit verstörender Häufigkeit über öffentliche Bildschirme, sodass ich mein Aussehen ändern und meine Identitätsdisks anpassen musste, bevor ich Edinburgh überhaupt verlassen konnte. Ich musste mich auch daran gewöhnen, an allen möglichen Orten ganz unerwartet Larissas Gesicht vor mir zu sehen, eine zusätzliche, nahezu unerträgliche Qual. Von Edinburgh nahm ich ein Schiff nach Amsterdam (mit dem Flugzeug zu reisen war unmöglich, weil die Fluglinien alle Identitätsdisks mit der universalen DNA-Datenbank abgleichen mussten), und von dort aus fuhr ich mit dem Bus, dem Zug und sogar per Anhalter nach Süden, wobei ich versuchte, so unauffällig wie möglich zu bleiben und mich in Gebieten aufzuhalten, wo die Informationstechnologie nicht allgegenwärtig war. Ich hoffte, unerkannt zu bleiben – und nicht verrückt zu werden.
Ersteres gelang mir; was Letzteres betrifft, so weiß ich es nicht. Ich hatte nach wie vor kein bestimmtes Ziel, und als die Tage zu Wochen wurden, begann die ständige Notwendigkeit, immer wieder neue Ausweise zu fabrizieren, mich in die Datenbanken von Banken zu hacken, um mir Geld zu beschaffen (nachdem das Geldbündel, das ich aus St. Kilda mitgenommen hatte, aufgebraucht war), und vierundzwanzig Stunden am Tag in Bezug auf fast jedes Detail meines Lebens schlichtweg zu lügen, einen hohen seelischen und emotionalen Tribut zu fordern. Und all das wurde noch erheblich schlimmer, als ich eines Tages auf meiner langsamen Reise durch Italien an einem kleinen Café mit einem Verkaufsterminal für Tageszeitungen vorbeikam. Von jeder Titelseite auf dem Bildschirm blitzten mir Schlagzeilen mit dem Wort »Washington« sowie Bilder des ersten amerikanischen Präsidenten entgegen. Ich lief herum, bis ich einen Laden fand, der die New York Times führte, steckte mein Geld in das Gerät und wartete atemlos auf den Ausdruck. Ich schüttete zwei Grappa wie Wasser in mich hinein und las über die offenkundige Rückkehr meiner ehemaligen Kameraden zu ihren Aktionen: Der Coup funktionierte wie geplant, außer dass Malcolms Hoffnung, er würde verhängnisvolle Fehler enthalten, sich als vergeblich erwies. Die Geschichte wurde überall als hieb- und stichfest akzeptiert – besonders in Europa, wo jeder vermeintliche Beweis für die moralische Unzulänglichkeit der Vereinigten Staaten allzeit willkommen war.
Die Sache versetzte mir in mehrfacher Hinsicht einen Schock. Allein schon die Erinnerung daran, dass ich noch vor gar nicht so langer Zeit an einem derart heimtückischen Unternehmen beteiligt gewesen war, beunruhigte mich jetzt natürlich; jetzt, da ich nicht mehr dazugehörte. Überdies wusste ich, dass jeder Bericht, den ich von nun an zufällig lesen oder sehen würde, ganz gleich, wie überzeugend seine Details auch waren, eine Lüge sein konnte; und die brüchige Verbindung zur Wirklichkeit, die ich in den Wochen im Untergrund sorgfältig gehegt und gepflegt hatte, zerriss erneut. Ich begann zu trinken. Dabei redete ich mir ein, dass ich es nur tat, um mich unter die Einheimischen zu mischen und mir ihr Wohlwollen zu sichern, damit die örtliche Polizei gar nicht erst auf die Idee kam, mein Konterfei übers Netz zu schicken oder meine Disks von der universalen DNA-Datenbank prüfen zu lassen. Doch in Wahrheit hatte ich sonst nichts, womit ich die völlige Entfremdung mildern konnte. Der Weg in den unteren Teil der italienischen Halbinsel war gleichbedeutend mit dem Abstieg in tiefe, alkoholbedingte Verwirrung, und als es wegen der Unzuverlässigkeit des
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