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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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elektronischen Bankings in diesem beinahe anarchischen Teil des Landes schwierig wurde, an Geld zu gelangen, wurde die Verwirrung zur Erniedrigung. Als ich das gesetzlose Neapel erreichte, sah ich aus, als gehörte ich auf seine Straßen; und es war ausgerechnet der zufällige Anblick eines bedeutungslosen Wandschmucks in einer heruntergekommenen Spelunke, der alles änderte.
    Völlig betrunken schaute ich eines Abends von dem stinkenden Tisch auf, auf den ich fast eine ganze Stunde lang meinen benebelten Kopf gebettet hatte, und sah ein vergilbendes Plakat, das für die Schönheiten Afrikas warb. Das Ding war natürlich an die vierzig Jahre alt, ein Relikt aus jener Zeit, als der »dunkle Kontinent«, wie ihn die Öffentlichkeit und die Medien in den letzten Jahren wieder zu nennen begonnen hatten, noch nicht durch Stammeskriege und die Aids-Epidemie nahezu entvölkert worden war; aber es entzündete dennoch meine betrunkene Fantasie. Wilde Visionen von einem Land mit dichten Dschungeln, windgepeitschten Savannen und prächtigen wilden Tieren – alles frei von der Seuche der Informationstechnologie, da Afrika die Hauptinsel des analogen Archipels war – packten meinen verblödeten Geist in den folgenden Tagen mit eisernem Griff, und ich versuchte sogar eine ganze Nacht lang, mich auszunüchtern, um mir darüber klar zu werden, ob es überhaupt Sinn hatte, dorthin zu gehen. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass dem so war, obwohl die Nüchternheit auch eine realistische Einschätzung mit sich brachte, welches Elend im modernen Afrika herrschte. Aber ich beschloss, dass ich lieber das Risiko eingehen wollte, krank zu werden und in Kriege hineinzugeraten, als ins Gefängnis gesperrt zu werden und den Verstand zu verlieren. Deshalb unterzog ich mein Äußeres einer gründlichen Reinigung, nahm die Identität eines respektablen amerikanischen Geschäftsmanns an, der der Spielsucht verfallen war, und begab mich zu einem berüchtigten neapolitanischen Kredithai. Dieser Mann hielt mich für eine risikolose Investition; er glaubte, dass sich mein Aktionsradius auf die örtlichen Spieltische beschränken würde, an denen es um hohe Einsätze ging, und war mehr als bereit, mir die US-Dollar zur Verfügung zu stellen, die ich brauchte, um mein verzweifeltes Ziel zu erreichen.
    In meinen Wochen als Stammgast in den schlimmsten Trinkschuppen und Drogenhöhlen der Stadt hatte ich die Bekanntschaft zweier besonders zwielichtiger französischer Piloten gemacht, die Waffen in verschiedene Regionen des analogen Archipels transportierten und ihre Freizeit in Neapel verbrachten, weil sie auf dessen Straßen außerordentlich gutes Heroin und Haschisch bekamen. Ich kehrte in eine ihrer Stammkneipen ein und fand heraus, dass sie gerade eine Fracht nach Afghanistan brachten – ausgerechnet –, aber noch in dieser Woche zurückerwartet wurden. In den nächsten Tagen war ich von Rastlosigkeit getrieben, aber auch von Hoffnung erfüllt und glaubte bald mehr denn je daran, dass ich demnächst in einem Gebiet sein würde, an dem die Informationsrevolution vorübergegangen war, in dem all die komplizierten philosophischen und sozialen Themen, die mein Leben in einen solchen Aufruhr versetzt hatten, keine Macht mehr besaßen, und in das die ständigen Wiederholungen der Zerstörung Moskaus – und die daran anschließenden Spekulationen über das mysteriöse »Phantomschiff« – nicht vorgedrungen waren.
    Während ich allmählich trocken wurde und mein Geld in Reiseliteratur statt in Schnaps anzulegen begann, träumte ich sogar davon, in Afrika ein neues Leben zu beginnen – und das, obwohl mich eben jene Bücher fortwährend daran erinnerten, dass die meisten wilden Tiere, die früher einmal Touristen auf den Kontinent gelockt hatten, inzwischen ausgerottet waren und ausländische Reisende, die das Gebiet trotzdem besuchen wollten oder mussten, wegen der weit verbreiteten Krankheiten und der überall herrschenden Unruhen zahlreiche Impfungen über sich ergehen lassen und entweder mit den Konsulaten ihres Landes oder den Vertretern der Vereinten Nationen in ständigem Kontakt bleiben mussten. Die beiden letzteren Ermahnungen konnte ich natürlich nicht befolgen: Die erste, weil ich dazu einem Arzt eine DNA-Probe hätte geben müssen, die zweite aus noch offensichtlicheren Gründen. Trotzdem klammerte ich mich verzweifelt an meine Träume und fuhr mit einem Eifer, den ich nur als fieberhaft bezeichnen kann, mit meinen

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