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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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zwischen ihrem Bruder und mir stellte. In diesem Wettstreit würde ich mich nur ein weiteres Mal in grausamer Vergeblichkeit üben. Ich erkannte jetzt, dass all meine verzweifelten Fantasien einzig und allein möglich gewesen waren, weil ich bewusst all das verdrängt hatte, was ich über ihre gemeinsame Vergangenheit wusste – und darüber, in welchem Maße er sie brauchte und wie sehr sie darauf angewiesen war, das Band zwischen ihnen zu bewahren. Mit Hilfe dieser Verbundenheit war es den Geschwistern gelungen, in ihrer zerstörten Kindheit ihre zerbrechliche, eingeschränkte Fähigkeit, intime, verbindliche Beziehungen einzugehen, zu schützen und während der folgenden Jahre am Leben zu erhalten. Deshalb war es nicht nur einfach töricht von mir zu glauben, dass unsere Gefühle füreinander jemals stärker sein könnten als eine solche Bindung; es war ein fürchterlicher Irrtum meinerseits gewesen, auch nur zu hoffen, dass sie sowohl ihn als auch sich selbst so fundamental verraten würde.
    »Es wird bald dunkel sein«, sagte sie mit einem Blick zum Himmel. »Wir haben nicht viel Zeit.« Sie schlang die Arme fester um ihren Körper. »Gott sei Dank«, sagte sie leise und machte damit klar, dass jedes weitere Gespräch sinnlos war.
    Obwohl es mich meine ganze Kraft kostete, blieb ich ein kleines Stück entfernt stehen. »Wenn sein Zustand sich verschlimmert, Larissa …«
    »Ich werde schon wissen, was zu tun ist.«
    Ich holte tief Luft, bevor ich verlegen fortfuhr: »Eines wollte ich vor den anderen nicht sagen – er hat angedeutet, er könnte Selbstmord begehen. Vielleicht war es eine Übertreibung im Eifer des Gefechts, vielleicht war es aber auch ernst gemeint. Er ist wirklich nahezu am Ende seiner Kräfte.«
    Sie nickte. »Ich päpple ihn wieder auf. Das habe ich immer getan.«
    In ihrer Stimme lag etwas Außergewöhnliches: Sie klang absolut alterslos und todunglücklich. Das kleine Mädchen, das damals Komplotte geschmiedet hatte mit dem leidgeprüften, aber tapferen Bruder, der sich so sehr bemühte, sie zu beschützen, versuchte nun, den harten Panzer der Selbstbeherrschung zu durchbrechen, mit dem sich die Frau vor mir umgab, um mir zu sagen, dass sie ihn zwar niemals verlassen konnte, sich aber sehnlichst wünschte, ich würde nicht weggehen. Mehrere sehr schmerzhafte Minuten lang brachte sie jedoch keinen Ton heraus; und dann, als ich gerade dachte, dass der Panzer heil bleiben würde, als ich schon ein Lebewohl herauswürgen und mich zwingen wollte, hinauszugehen, kam der Zusammenbruch. Sie wirbelte herum, eilte völlig aufgelöst und von Tränen geschüttelt zu mir und vergrub ihr Gesicht an meiner Brust, wie sie es oft getan hatte. »Nein« , rief sie und schlug, so heftig sie konnte, mit ihren Fäusten auf mich ein. »Nein, nein, nein …«
    Ich packte behutsam ihre Handgelenke, küsste ihr silbriges Haar und flüsterte: »Ich wünsch dir alles Gute, Larissa.« Dann drückte ich ihre Fäuste an ihren bebenden Körper und rannte regelrecht hinaus. Noch lange, nachdem ich den Turbinenhubschrauber bestiegen hatte und wieder einmal in geringer Höhe über den eisigen Nordatlantik hinwegflog, glaubte ich, sie schluchzen zu hören.

44
    J a, ich ging nach Süden, kam immer weiter herunter – in jeder Hinsicht …
    Julien versuchte mich auf dem Hubschrauberflug zum William Wallace Airport von Edinburgh mit seinem Verständnis für Herzensdinge, das selbst für einen Franzosen untypisch war, zu beruhigen: Man könne nicht wissen, was in der Zukunft geschehen würde, Larissa und ich seien immerhin noch am Leben und passten viel zu gut zueinander, als dass alles einfach so plötzlich und endgültig vorbei sein könnte. Paradoxerweise bestätigten mich seine Worte jedoch nur in der verzweifelten Überzeugung, dass ich die seltsame, aber wunderbare Frau, nach der ich mein ganzes Leben lang auf der Suche gewesen war, für immer verloren hatte. Als wir unser Ziel erreichten, stieg Fouché aus dem Helikopter, drückte mich kräftig an seine Brust, küsste mich auf beide Wangen und versicherte mir, dass wir uns wiedersehen würden. Doch als der Hubschrauber abhob und mich stehen ließ, mit nichts als einer kleinen Schultertasche, die zwei Handfeuerwaffen enthielt – eine, mit der man das Opfer nur betäubte, die andere eine tödliche Rail-Pistole, beide aus Verbundharzen gefertigt, die kein Sicherheitssystem entdecken konnte –, musste ich eine Weile sehr schnell atmen und nachdenken, um das Gefühl

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