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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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auf eine riesige Wasserfläche. Da ich wusste, dass wir nicht weit genug nach Süden gekommen waren und dies daher nicht der Victoria-See sein konnte, blieb nur die Annahme, dass es sich um den Albert-See handelte. Ich befand mich an seinem nördlichen Ende, und wie ich gelesen zu haben glaubte, gehörte das Wasser, das dort herausströmte, zu den Quellen des Weißen Nils: Wenn ich diesem Flusslauf folgte, würde ich in den Sudan kommen, wohin ich auf gar keinen Fall wollte. Im Osten und Süden war das Schlachthaus von Uganda, und im Westen? Im Westen lag ein weiteres vom Krieg verwüstetes Land, das in den letzten fünfundzwanzig Jahren von so vielen aufeinander folgenden Regimes so viele Namen bekommen hatte, dass die übrige Welt wieder auf ihre alte, allseits bekannte Bezeichnung zurückgegriffen hatte: der Kongo. Per Ausschlussverfahren entschied ich mich nun, den Weg in dieses große Unbekannte anzutreten, und humpelte ohne jede genauere Vorstellung davon, wohin ich ging oder was ich dort wollte, durch die Mitumba-Berge.
    Tage vergingen, und die Berichte über die Ausrottung der wilden Tiere, die ich vor meiner Abreise gelesen hatte, schienen mir allmählich wahr zu sein: Ich sah keine Spuren von Tieren, die groß genug waren, um sie zu essen, und hörte kaum irgendwelche Lebenszeichen außer dem Echo von Schüssen, das durch die Berge hallte. Ich ernährte mich von Insekten, von Regenwasser, das sich in riesigen Blättern gesammelt hatte, und von analgetischen – wie auch halluzinogenen – Wurzeln, wobei Letztere mich zumindest von meinem schmerzenden Bein ablenkten. Aber trotz aller Bewusstseinsveränderung blieb mir nicht verborgen, dass ich bald tot sein würde; und als mein langer Fußmarsch mich endlich wieder in Sichtweite des Albert-Sees zurückführte – denn ich hatte keinen Kompass, und wer glaubt, es sei für einen Anfänger leicht, seinen Weg durch die Wildnis ausschließlich mit Hilfe der Sonne und der Sterne zu finden, hat es offenbar noch nie versucht –, setzte ich mich einfach auf einen steilen Hang und begann, jämmerlich zu weinen und zu brüllen. Das tat ich so lange, bis ich vor Hunger und Erschöpfung ohnmächtig wurde.
    Dass ich von einem Mann, der Englisch sprach, wieder belebt und dann von dort weggetragen wurde, erstaunte mich damals weniger als die Tatsache, dass ich überhaupt noch am Leben war. »Du bist ein großer Dummkopf«, lachte der hoch gewachsene, kräftige Mann, als er mich über seine Schulter warf. Ich sah, dass er einen Kampfanzug trug. »Bist du hergekommen, um dir die Gorillas anzuschauen, und hast festgestellt, dass sie alle tot sind?«
    »Ein Dummkopf?«, wiederholte ich, während ich meinen verkehrt herum hängenden Kopf verdrehte und mehrere andere Soldaten in unserer Nähe sah. Ihre Tarnuniformen waren ziemlich zerschlissen, aber ihre Sturmwaffen glänzten. »Wieso findest du, dass ich ein Dummkopf bin?«
    »Jeder Fremde in Afrika ist ein Dummkopf«, antwortete der Mann. »Hier hat kein Mensch etwas verloren, sofern er nicht hier geboren ist. Wie geht es deinem Bein?«
    Tatsächlich pochte mein Bein bei jedem Schritt, den er machte, aber ich sagte nur: »Woher wusstet ihr …?«
    »Wir haben gesehen, wie du aus dem Flugzeug gesprungen und gelandet bist. Und unsere Feinde erschossen hast! Wir dachten, der Dschungel würde dich behalten. Aber dann hast du mit deinem weibischen Gewinsel angefangen. Das hätte unsere Feinde anlocken können. Also haben wir uns überlegt, dass es besser ist, einen Dummkopf zu retten, als durch ihn zu sterben. Dann wären wir nämlich noch größere Dummköpfe.«
    »Sehr vernünftig«, sagte ich. »Du sprichst sehr gut Englisch.«
    »Als ich klein war, gab es noch eine Schule, in der man es uns beigebracht hat«, antwortete er. »Am Fuß der Berge.«
    »Ah.« Ich fragte mich, wie lange ich noch so dahängen sollte. »Übrigens, wohin gehen wir?«
    »Wir bringen dich zu unserem Häuptling – Dugumbe. Er wird entscheiden, was mit dir geschehen soll.«
    Ich beäugte die ziemlich wild aussehenden Soldaten erneut. »Ist er zufällig ein Mensch, der Erbarmen kennt?«
    »Erbarmen?« Der Mann lachte erneut. »Nicht dass ich wüsste. Aber er ist fair, sogar Dummköpfen gegenüber.« Er nahm mich auf seine andere Schulter, ohne innezuhalten, und fügte hinzu: »Es muss etwas sehr Schreckliches gewesen sein.«
    »Was denn?« Ich zuckte zusammen, als er mich umbettete.
    »Was dich hierher getrieben hat«, antwortete der Mann schlicht. »Etwas

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