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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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sie an, sie sollten den Mund halten und verschwinden. Aber sie beachteten mich überhaupt nicht und zeigten damit, dass mein Status als Außenseiter mich in einem solchen rituellen Moment unsichtbar werden ließ. Trotzdem brüllte ich weiter auf sie ein, bis der Schamane eintraf, begleitet von mehreren bewaffneten Wächtern, die höchst bedrohlich dreinschauten. Beim Anblick des bösartig aussehenden Messers in der Hand des Schamanen – und des unmissverständlichen, bösen Blicks, den er mir zuwarf – eilte ich ins Zelt zurück, wo ich Mutesa vorfand, der den Arm um die zitternde, schluchzende Ama gelegt hatte.
    »Mutesa«, sagte ich und erkannte voller Furcht, dass es tatsächlich keine Möglichkeit gab, dem Albtraum ein Ende zu bereiten, »sag dem Schamanen zumindest, er soll mir erlauben, sie vorzubereiten. Ich habe Drogen, die den Schmerz betäuben können, und wir müssen das Messer und die Wunde sauber halten.«
    »Gideon, du darfst dich nicht einmischen «, erklärte Mutesa erneut. »Darüber gibt es keine Diskussion. Es wird so gemacht, wie es immer gemacht wird.« Ich dachte, er würde selbst gleich in Tränen ausbrechen, als er sagte: »Sie ist ein weibliches Kind, Gideon. Der Schmerz ist nicht wichtig, nur die Zeremonie.« Bei seinen Worten begann Ama ängstlich zu kreischen, und Mutesa packte sie fester. Er befahl ihr, still zu sein, und schleppte sie hinaus zu der versammelten Menge.
    Amas Schreie klangen schrecklich, schon bevor das Schneiden begann; doch als das Messer eindrang, wurden sie schlichtweg zu dem Entsetzlichsten und Unerträglichsten, was ich je gehört habe. Ich presste die Hände an den Kopf und glaubte, ich würde den Verstand verlieren – und dann kann mir eine Idee. Ich lief dorthin, wo ich meine Tasche verstaut hatte, und zog die Betäubungspistole heraus. Wenn ich schon nicht imstande war, den unaussprechlichen Akt zu verhindern, so konnte ich zumindest die Qualen des Kindes lindern.
    Ich stürzte hinaus und sah eine so abstoßende Szene vor mir, dass ich wie angewurzelt stehen blieb. Es war kein besonderer Bereich für die Prozedur abgesteckt worden, man hatte nicht einmal eine Decke auf den Boden gelegt – wie viel ein »weibliches Kind« galt, wurde zur Genüge durch die Art und Weise demonstriert, wie seine Genitalien im Dreck zerschnitten wurden, fast genauso, wie man ein Tier kastriert hätte. Mit einem jähen Aufschrei brachte ich die Zeremonie zum Stillstand; und als ich meine Waffe hob, trat der Schamane mit dem blutigen Messer in der Hand einen Schritt von dem Mädchen weg, sodass ich freie Schussbahn hatte. Sofort zog ich den Abzug durch, und Amas Körper hob sich ruckartig ein paar Zentimeter in die Luft, während sie gnädigerweise das Bewusstsein verlor, ohne etwas zu spüren.
    »Sie schläft nur!«, rief ich schwer atmend, wobei ich die wenigen Brocken ihrer Sprache benutzte, die ich kannte; dann richtete ich die Waffe rasch auf die Wächter des Schamanen. »Sag dem Schamanen, er kann jetzt weitermachen, Mutesa«, sagte ich auf Englisch, öffnete die Zeltklappe und ging wieder hinein. »Und ich hoffe, eure Götter werden euch allen vergeben.«

46
    Ü berflüssig zu erwähnen, dass in Dugumbes Lager nach diesem Abend für mich nichts mehr so war wie zuvor. Oh, ich diskutierte natürlich mit den Häuptling über das Thema, wir diskutierten es viele Male in vielen Nächten. Aber er fand meine Erklärungen größtenteils nur amüsant, obwohl sie ihn ein paar Mal ziemlich zu irritieren schienen. Eine Frau, die körperliches Vergnügen am Sex empfinde, sagte er, sei eine Frau, die nicht kontrolliert werden könne, die wie eine Hure von einem Zelt zum andern wandere – und er dulde keine Huren in seinem Lager. Außerdem erklärte er mir, obwohl er meine Gesellschaft genossen habe und meine Bemühungen um seine Leute anerkenne, wäre ich gut beraten, es mir in Zukunft sorgfältiger zu überlegen, bevor ich Streit anfing: Er könne sich von einem Mann nur in begrenztem Maße Unverschämtheiten gefallen lassen, erst recht von einem weißen Mann, und er habe nicht den Wunsch, an mir ein Exempel zu statuieren. Ich wusste, dass seine verschleierte Drohung ernst gemeint war, ließ das Thema schließlich fallen und entschied mich, heimlich alles in meiner Macht Stehende zu tun, indem ich den Müttern im Lager beibrachte, ihren Töchtern vor der schrecklichen Zeremonie Schmerzmittel und – als wir sie herstellen konnten – Opiate zu verabreichen. Aber in Wahrheit schienen

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