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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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viele dieser Frauen, die dieselben Qualen erlitten hatten, keinerlei Neigung zu verspüren, wenigstens die Leiden ihrer eigenen Kinder zu lindern; und so gingen die Verstümmelungen weiter wie zuvor.
    Mein Betäubungsschuss hatte so gut wie keine Folgen. Ich wusste, dass die bei der Zeremonie anwesenden Soldaten Dugumbe davon unterrichten würden (obwohl der Schamane, der nicht zugeben wollte, dass jemand größere Macht hatte als er, sich ihnen wahrscheinlich nicht anschließen würde); deshalb schlich ich mich in dieser Nacht aus dem Lager und leerte die Energiezellen der Waffe. Als Dugumbe sie sehen wollte, machte ich sie ihm zum Geschenk; und als sie keinerlei Wirkung zeitigte, warf er sie mir zurück und erklärte, die Soldaten seien Dummköpfe, und Ama habe einfach nur vor Schmerzen das Bewusstsein verloren. Damit stand ich nun vor dem Dilemma, dass ich nur noch die andere, tödliche Waffe besaß; deshalb musste ich von diesem Zeitpunkt an sehr auf der Hut sein, um Streit zu vermeiden (was bedeutete, den Schamanen zu meiden), und mich auf meine ärztlichen Pflichten konzentrieren.
    Aber der Verlust meiner Illusionen erschwerte mir ein solches Leben in zunehmendem Maße, und ich ertappte mich schon bald bei der Frage, ob ich mit meiner Reise nach Afrika den Übeln des »Informationszeitalters« wirklich entronnen war. Was waren die gesammelten Überlieferungen von Dugumbes Volk anderes als »Information«? Sicher, niemand hatte sie aufgezeichnet, aber sie waren trotzdem mächtig – und manipulierbar. Was hatte Mutesa an diesem Abend in seinem Zelt anderes getan, als sich etwas einzureden, was von Grund auf falsch war? Natürlich hatte er das im tiefsten Innern gewusst, aber er musste sich unbedingt daran halten, wenn er seinen Platz im Stamm und seinen Glauben an diesen bewahren wollte. Hätte über dem Eingang zu seinem Zelt nicht auch mit Fug und Recht »Mundus vult decipi« stehen können? Waren die Übel, denen ich zu entkommen versucht hatte, als ich bei Neapel ins Flugzeug der Franzosen stieg, nicht in Wahrheit menschliche Übel, die der Zeit und der Technologie trotzten und weitergegeben wurden, wo immer der Mensch seine Vorherrschaft zu errichten beschloss?
    Und hatte Malcolm nicht Recht mit seiner Behauptung, dass wir daran niemals etwas ändern würden, wenn es uns nicht gelänge, die Vergangenheit zu verändern?
    Solche Gedanken brannten nicht nur während meiner wachen Stunden in meinem Kopf, sondern auch, wenn ich schlief; und als diese Träume eines Nachts von jenem tiefen Grollen begleitet wurden, das Malcolms Schiff erzeugte, wenn er seine Feinde einschüchtern oder ihre Bauwerke erschüttern wollte, dachte ich beim Aufwachen, mein Unterbewusstsein hätte nur eine entsprechende assoziative Verbindung hergestellt. Erst als Mutesa mich richtig wachrüttelte und mir von den Gerüchten über ein seltsames Flugzeug erzählte, das von Nordosten auf das Gebiet zukam, in dem sich unser Lager befand, erkannte ich, dass das Geräusch real gewesen war.
    »Es heißt, sie suchen nach dir, Gideon«, erzählte er mir in eindringlichem Ton, »und wenn sie angegriffen werden, zerstören sie ganze Felder und Waldgebiete, ja sogar Dörfer, indem sie die Macht der Sonne verstärken.«
    Ich setzte mich in meinem Feldbett auf und versuchte, es zu verstehen. Das Schiff kam, und es kam meinetwegen, so viel stand fest: Seine Flugbahn ließ darauf schließen, dass es der Route folgte, auf der ich hierher gelangt war. Es war meinen Freunden an Bord bestimmt nicht schwer gefallen, meinen Reiseweg durch Europa und dann nach Afrika zu verfolgen; und dass sie es getan hatten, schien mir angesichts meiner jüngsten Empfindungen in Bezug auf das Leben im analogen Archipel und speziell in Dugumbes Lager zunächst etwas Gutes und Erfreuliches zu sein. Doch dann lichtete sich der Nebel in meinem Kopf allmählich, und als ich weiter darüber nachdachte, befiel mich eine tiefe Furcht:
    Weshalb kamen sie? Mit Malcolm hatte ich mich praktisch vollständig überworfen, und ich kannte ihn zu gut, um zu glauben, dass er jemanden, der derart schwerwiegende Zweifel an seiner Arbeit zum Ausdruck gebracht hatte, jemals wieder in den Schoß seiner Familie aufnehmen würde. Und die anderen würden es trotz aller gegenseitigen Sympathie ebenso wenig tun; nicht einmal Larissa hatte den Wunsch geäußert, dass ich bleiben sollte, wenn ich nicht an ihre Arbeit glauben konnte. Weshalb also? Ich besaß keine speziellen technischen Kenntnisse, die

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