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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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sie benötigten – ihr erfolgreicher Einsatz des Washington-Materials hatte das bewiesen. Was wollten sie?
    Alle möglichen Erklärungsansätze führten nur zu einer Schlussfolgerung: Malcolm hatte mir ganz offen erklärt, er wisse absolut nicht, ob es ihm Recht wäre, dass ich »frei in der Gegend herumlaufe«, nachdem ich nun seine Geheimnisse kannte; und diese Verwundbarkeit musste so sehr an seinem labilen Geist genagt haben, dass er jetzt kam, um wenigstens einem seiner Probleme ein Ende zu bereiten – ein für alle Mal.
    In den nächsten zwei Tagen – und das waren auch die letzten zwei Tage –, während das Donnergrollen weiterhin durch die Berge hallte und die Berichte aus Dörfern an den tiefer gelegenen Hängen immer zahlreicher wurden, habe ich vergeblich nach einer anderen Erklärung gesucht. Ich habe keine Ahnung, warum Larissa und die anderen sich an meiner Ermordung beteiligen sollten, außer wenn Malcolm – der ja sehr überzeugend sein kann – sie dazu überredet hat. Vielleicht hat er sogar Indizien fabriziert, um zu beweisen, dass ich sie verraten habe. Wie immer die Antwort lautet, ich werde sie wohl nie erfahren. Nur eins weiß ich mit Sicherheit: Ich kann es nicht darauf ankommen lassen, dass diese Leute, die mir Zuflucht gewährt haben, unbeteiligte Opfer dieses nicht enden wollenden Wahnsinns werden. Ich muss weiterziehen.
    Gerade bricht die Morgendämmerung herein, und ich höre, wie Mutesa draußen vor meinem Zelt seine Sachen zusammenpackt. Sein Beharren darauf, mich zur Küste zu begleiten, resultiert zum Teil wohl aus unserer Freundschaft, zum Teil aber auch aus der Dankbarkeit, die er immer in seinem Blick gezeigt, aber nie in Worte gefasst hat – seiner Dankbarkeit dafür, glaube ich, dass ich die Qualen der unglücklichen Ama gelindert habe. Es wird schwer sein, ihm und seiner Familie Lebewohl zu sagen, doch abgesehen davon werde ich diesen Ort kaum vermissen. Dugumbes gelegentliche Perlen der Weisheit – insbesondere seine Warnung, Information sei nicht Wissen – liefern keine vernünftige Erklärung für seine Handlungen, wie ich zu meinem Bedauern festhalten muss; und obwohl ich, wie gesagt, dankbar dafür bin, dass er sich um meine Sicherheit sorgt, kann ich auf diesen ganz privaten Seiten eindeutig feststellen, dass seine eigene Definition von Wissen letztendlich kein Segen für seinen Stamm oder die Welt ist. Ich habe ihm erklärt, dass er das Schiff nicht in einen Kampf verwickeln darf, wenn es kommt, und dass er nicht zögern soll, den Leuten an Bord zu sagen, wohin ich gegangen bin, und ich hoffe, er befolgt meinen Rat; aber es kann sein, dass er aufgrund seines kriegerischen Stolzes nicht dazu fähig ist.
    Mutesa flüstert meinen Namen durch die Zeltleinwand; ich muss aufbrechen. Ich habe beschlossen, dass ich, wenn wir es zur Küste schaffen, dieses Dokument irgendwo ins Internet stellen werde, auch wenn es kaum etwas nützen wird. Über das, was danach passiert, mache ich mir keine Illusionen: Ich kann fliehen und werde es auch versuchen, aber wenn Malcolm und die anderen mich wirklich tot sehen wollen, bin ich es aller Wahrscheinlichkeit nach bereits.

47
    VOR DER KÜSTE VON SANSIBAR , DREI UHR FRÜH , ZWEI TAGE SPÄTER
     
    S o schnell ich diese Geschichte bisher schon zu erzählen versucht habe, ich kann sie nun noch schneller zu Ende bringen – denn die Ereignisse der letzten zwölf Stunden haben abrupt dafür gesorgt, dass niemand meinen Aufzeichnungen Glauben schenken wird. Wir leben jetzt alle in einer anderen Welt als noch vor rund fünfzig Stunden, als ich mich hingesetzt habe, um diesen Bericht abzufassen. Wie anders diese Welt ist, weiß ich noch nicht; ich habe erst ein kleines Stück von ihr gesehen. Aber wenn dieses Stück ein Maßstab ist, dann kann es durchaus sein, dass wir an Bord dieses Schiffes uns als einzige Menschen auf Erden der verblüffenden Wandlung bewusst sind, die inzwischen stattgefunden hat. Für alle anderen ist diese neue Realität zwangsläufig so, wie es schon immer gewesen ist, und deshalb wird ihnen mein Bericht nicht nur unglaubwürdig, sondern total verrückt vorkommen.
    Ich sage »an Bord dieses Schiffes«, weil ich mich überraschenderweise dort befinde: an Bord des riesigen elektromagnetischen Gefährts, das ich bis gestern Morgen für Malcolm Tressalians erstaunlichste Erfindung gehalten habe. Larissa schläft neben mir im Bett in meiner Kabine, während ich schreibe – erschöpft von der Anstrengung zu verstehen, was

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