Die Täuschung
ihrer Verwirklichung mithalf? So viele Faktoren spielten dabei eine Rolle, nicht zuletzt das bleibende Trauma, das durch die Ermordung meines ältesten Freundes direkt vor meinen Augen ausgelöst worden war, und die Tatsache, dass ich in den Tagen seit jenem Ereignis nicht mehr richtig geschlafen hatte. Dennoch wären körperliche und seelische Erschöpfung allein keine zureichenden Gründe für meine schnelle innere Metamorphose. Nein, die Flut intellektueller, visueller und körperlicher Stimuli, die in diesen Stunden vor und nach der Morgendämmerung unablässig über mich hereinbrach, hätte wohl auch die stärkste und skeptischste Natur bekehrt. Und ich erzähle das nicht nur, um meine Reaktion zu entschuldigen; vielmehr ist es ein Beleg für alles, was ich gehört, gesehen und empfunden habe, während wir die pakistanische Küste passierten und ins Innere des Subkontinents vordrangen.
Wie Larissa gesagt hatte, war das Tal des einstmals stolzen Indus, Wiege einer der bedeutendsten und geheimnisvollsten alten Zivilisationen, während des nach wie vor tobenden Krieges zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir in ein nukleares Ödland verwandelt worden. Die zusätzliche Erklärung meiner schönen Gefährtin, das Tal sei unbewohnt, entsprach jedoch genau genommen nicht ganz den Tatsachen. Als wir über der Wasserfläche dahinrasten, vorbei an Flussufern, die mit verwesenden Leichen und ausgebleichten Skeletten übersät waren, sahen wir hin und wieder Gruppen der vielleicht hoffnungslosesten Menschen auf Erden: Bauern und Dorfbewohner, deren Körper und Lebensweise – deren Lebenschancen – durch den bösartigen Nationalismus und den religiösen Eifer sowohl ihrer Feinde als auch ihrer eigenen Landsleute aufs Schrecklichste zerstört worden waren. In langen Schlangen kamen sie von den Hängen herab, diese geschwächten Gespenster, humpelten und schlurften im Licht des Mondes zum Fluss, um Eimer mit dessen vergiftetem Wasser zu füllen, das sie später vergeblich kochen würden, um es zu reinigen, damit sie noch ein paar Tage oder Wochen auf die einzige Art weiterleben konnten, wie es ihnen angesichts des verheerenden Zustands ihres Staates und der mangelnden Bereitschaft seiner übrigen Bürger, solche nuklearen Aussätzigen zu akzeptieren, möglich war.
Der Anblick traf uns alle bis ins Mark und verdrängte für eine Weile sogar meine brennende Neugier bezüglich meiner Gefährten; von Malcolm schien er jedoch den größten Tribut zu fordern. Es war bekannt, dass die Entstehung von Indiens fanatisch kriegslustigem, neuartigem Nationalismus in den Jahren seit der Jahrtausendwende mit dem Aufstieg der Informationstechnologien und Netzwerke zur wirtschaftlichen und sozialen Vorherrschaft in diesem Land zusammengefallen war; und Larissa sollte mir später erzählen, dass Malcolm ihren Vater und seinesgleichen immer persönlich dafür verantwortlich gemacht hatte, dass die von ihnen entwickelten Systeme dazu benutzt werden konnten und auch benutzt wurden, um auf die gleiche unregulierte Weise, die den Verkauf von Konsumgütern kennzeichnete, Lügen und Hass unter solchen Völkern zu verbreiten. Das Ausmaß von Malcolms Zorn, Verzweiflung und Schuldbewusstsein (zumindest hielt ich es damals dafür) war jedenfalls unübersehbar, als ich ihn in dieser Nacht beobachtete; und tatsächlich führte es bald dazu, dass er eine Art Rückfall erlitt. Er begann erneut, zischend Luft durch die Zähne zu saugen und die Hände an den Kopf zu krallen, wenn auch in Anbetracht der Größe seines Publikums diesmal etwas verstohlener. Auf diese Warnzeichen hin kam Larissa ihm sofort zu Hilfe. Sie nahm seine rechte Hand, hielt sie mit beiden Händen fest und flüsterte ihm ein paar beruhigende Worte ins Ohr, dann griff sie in die Tasche seiner Jacke, zog einen kleinen Transdermalinjektor heraus und hielt ihn einen Moment lang an eine Ader in seiner linken Hand. Gleich darauf schien er vor sich hin zu dösen, wenn auch unruhig, und Larissa breitete eine kleine Decke über seine Beine.
Erst als die übrigen Mitglieder der Gruppe sicher waren, dass Malcolm schlief, konnten sie sich unbesorgt anderen Aufgaben zuwenden. Colonel Slayton stieg zur Kommandoebene im Bug hinunter und nahm seinen Platz am Ruder ein, während Fouché und Tarbell hinausgingen, um sich zu vergewissern, dass die Maschinen des Fahrzeugs die diversen »Systemtransfers« heil überstanden hatten. Was die Kupermans betraf, so fragte Larissa die beiden, ob sie wohl bereit
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