Die Täuschung
erdenklichen Schimpfwörter an den Kopf geworfen.«
»Geschah ihnen recht«, sagte ich. »Das weißt du doch, oder?«
Sie nickte. »Kognitiv, wie man so sagt. Was die Gefühlsebene betrifft … ist es ein bisschen schwieriger. Na ja, schließlich sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir sie einfach loswerden mussten. Zuerst Mutter, weil sie nicht nur bösartig, sondern auch völlig nutzlos war. Vater – nun, wir mussten warten, damit er die Satelliten fertig bauen konnte.«
»Du hast das weiterhin ertragen«, sagte ich und hatte wieder einmal das Gefühl, einen Schlag vor den Kopf bekommen zu haben, »weil du wolltest, dass er das Vier-Gigabyte-Satellitensystem fertig stellte?«
»Ich wusste ja, wie viel es für Malcolm und mich nach seinem Tod wert sein würde«, erwiderte Larissa. »Die Neuerfindung des Internets? Ja, ich konnte seine Berührung noch ein paar Mal ertragen, wenn es bedeutete, dass mein Bruder und ich diese Gewinne bekommen würden. Als das System dann in Betrieb genommen wurde und fehlerfrei funktionierte, ist Vater ’07 zum Wirtschaftsgipfel eingeladen worden. So lange haben wir noch gewartet. Bis kurz danach. Wir sind mit ihm nach Washington geflogen – haben sogar den Präsidenten getroffen. Auf dem Rückflug nach Seattle waren wir drei ganz allein in der Maschine. Er war sehr zufrieden mit sich. Kein Wunder, er und seine Freunde waren ja gerade die mächtigsten Menschen im Land geworden. Er hat sich betrunken. Ist während des Landeanflugs gegen die Notausstiegsluke gestolpert und hat sie dabei geöffnet. Anscheinend.« Larissa stieß einen kurzen Seufzer aus und hob einen Finger. »Zum Glück hatten seine ihn liebenden Kinder klugerweise die Sitzgurte angelegt und bewahrten kühlen Kopf, während der Kopilot alles wieder unter Kontrolle bekam.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde seinen Gesichtsausdruck nie vergessen …«
Während sie mir all das erzählte, schwand allmählich und nahezu unbemerkt die objektive Distanz, die ich bisher verspürt hatte; sie wurde von einer Reihe starker emphatischer Gefühle verdrängt, Überbleibseln meiner eigenen problembeladenen Vergangenheit. Und so strich ich ihr in diesem kritischen Moment einfach nur über die Wange und sagte: »Ich nehme an, es hat dir die Attentate erleichtert – dass du … äh … das schon getan hattest.«
Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich, ja. Aber ich glaube, es hat mich eher inspiriert als mir die Sache erleichtert. Es war ein tolles Gefühl, Menschen ins Jenseits zu befördern, die wahrhaftig nichts anderes verdient hatten. Anscheinend habe ich eine echte Vorliebe dafür. Ich weiß noch, als ich Rajiv Karamchand erschossen habe …«
»Das warst du ?« Karamchand war der indische Präsident, der den Einsatz der ersten Atomwaffen im Kaschmir-Krieg genehmigt hatte. Allen Bemühungen vieler Geheimdienste zum Trotz war seine Ermordung ein Rätsel geblieben.
Larissa nickte lächelnd. »Und es war das gleiche Gefühl wie damals, als ich Vater aus dem Flugzeug fallen sah. Ein Mann, der Verantwortung für das Leben und das Wohlergehen anderer übernimmt und deren Vertrauen dann so vollständig enttäuscht – ich kann mir wirklich nichts Schlimmeres vorstellen. Außerdem« – sie rollte sich auf den Bauch, und ihre Worte kamen schneller – »denk mal über Folgendes nach: Warum waren Attentate immer derart tabu? Das ist doch grotesk. Ein politischer Führer kann Menschen befehlen, in den Tod zu gehen oder andere zu töten, und die Führungskräfte großer Unternehmen können im Namen des Geschäfts jedes beliebige Verbrechen begehen – aber man hält sie für unantastbar. Wieso eigentlich? Warum sollte Karamchand sich, wenn er nachts ins Bett ging, auch nur einen Deut sicherer fühlen als einer seiner eigenen Soldaten oder die Pakistanis, die er abschlachtete? Aus welchem Grund sollte ein hochrangiger Manager, der von Sklavenarbeit profitiert, immun gegenüber dem Terror sein, dem seine Arbeiter ausgesetzt sind? Ein gelegentliches Attentat ist die einzige Möglichkeit, solche Leute dazu zu bringen, etwas gründlicher darüber nachzudenken, was sie tun. Und was die Frage anbelangt, wie man all die anderen Menschen auf der Welt dazu bringt, etwas intensiver darüber nachzudenken, wessen Befehle sie befolgen und was sie glauben wollen – nun, genau darum geht es bei dem, was wir gerade tun, nicht wahr?«
Ich sann über ihre Worte nach. »Ja, das leuchtet mir ein«, erwiderte ich bedächtig. »Aber ich weiß
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