Die Täuschung
verschreckt, stimmt’s?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Aber ich bin neugierig, Larissa. Weißt du, die einzige Geschichte, die ich wirklich gern hören würde, haben sie mir nicht erzählt.«
»So?« Sie stippte einen Finger in die Wachspfütze der Kerze. »Und welche wäre das?«
Ich trat einen zögernden Schritt über die Schwelle. »Was hat dich und deinen Bruder dazu gebracht, all diese Dinge zu tun? Ursprünglich, meine ich. Tut mir Leid, aber ich bin Psychiater – dir muss klar gewesen sein, dass ich fragen würde. Malcolm war es garantiert klar.«
Larissa lächelte weiter. »Ja. Es war uns beiden klar. Na dann …« Sie lüpfte ihre Decke. »Kommen Sie lieber ins Bett, Herr Doktor, und lassen Sie mich erklären.«
Ich trat ganz ein und schloss die Tür zu meiner Kabine, just in dem Moment, als die ersten unbemannten amerikanischen Jagdbomber weit hinter uns ihre Bombenladungen abwarfen und verheerende Zerstörung auf die mittlerweile brennende afghanische Ebene regnen ließen.
19
D ass die menschliche Brutalität sich häufiger hinter einem ehrbaren Gesicht verbirgt als hinter einem bösen, dürfte niemandem neu sein; aber nur weil es so offensichtlich ist, war es für mich nie weniger traurig oder empörend. Da ich meine eigene Kindheit unter gesellschaftlich angesehenen, aber insgeheim gewalttätigen Erwachsenen verbracht habe, fühlte ich mich immer auf besondere Weise mit jenen verwandt, die nicht nur unter Misshandlungen gelitten haben, sondern diese auch noch von Menschen erdulden mussten, die von der gesamten Gesellschaft in irgendeiner Weise besonders geschätzt werden. Bestimmt lag es daran, dass meine Verbundenheit mit Larissa und Malcolm Tressalian an diesem Morgen, auf unserer Reise nach Norden, so stark gefestigt wurde. Unter den vielen Fällen von schrecklichen Kindheitserlebnissen, die ich untersucht habe, ist ihrer nach wie vor der einzige, den ich wahrhaft einmalig nennen kann; und wenn es überhaupt je eine Geschichte gab, die unter Garantie die vertrauten Gefühle des Kummers und der Empörung in meinem Herzen wachrufen würde, dann diejenige, die ich in der kerzenbeschienenen Stille meiner Kabine von Larissa zu hören bekam. Wie bereits erwähnt, war Malcolms und Larissas Vater, Stephen Tressalian, einer der ersten und mächtigsten Anführer der Informationsrevolution gewesen. Schon in jungen Jahren ein berühmtes Wunderkind, entwickelte der ältere Tressalian gleich zu Beginn seines Erwachsenenlebens die Hardware und Software für ein Internet-Routingsystem, das zum internationalen Standard und zum Grundstein seines Imperiums wurde. Diese Errungenschaft brachte ihm Ruhm, Reichtum und eine Frau ein, eine schöne Filmschauspielerin, die jene geschliffene, aber dennoch langweilige geistige Oberflächlichkeit besaß, die in Hollywood so oft als Intelligenz gilt; und weitere einschneidende Innovationen auf dem Gebiet der Informationsvermittlung verliehen seinem Namen, der ohnehin schon jedermann ein Begriff war, einen noch höheren Rang.
Die Medien zeichneten von Anfang an ein Bild von Stephen Tressalian, das ihn irgendwie edler erscheinen ließ als den durchschnittlichen Informationsmagnaten. Er verbreitete sich oft und in aller Öffentlichkeit über die sozialen und politischen Fortschritte, die die Informationstechnologie der Welt angeblich bringen würde, und er war überzeugend – so überzeugend, dass er nicht nur unter internationalen Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, sondern auch unter den ganz gewöhnlichen Internetnutzern Legionen von Bewunderern hatte. Darum zeigte die Boulevardpresse großes Interesse, als der Technokrat und seine frisch gebackene Gattin im Jahr 1991 die Geburt ihres ersten Kindes, eines Jungen, bekannt gaben. Schon als Kleinkind legte Malcolm eine frühreife Intelligenz an den Tag, die der seines Erzeugers glich; doch dieser ehrgeizige Mann war nicht zufrieden mit einem Sohn, der nur ebenso gut war wie er. Anders als die meisten Väter sehnte sich Stephen Tressalian nach einem Erben, der ihn übertraf, weil er glaubte, dies würde seinem Vermächtnis nur noch größeren Glanz verleihen. Und so begann er nach Möglichkeiten zu suchen, Malcolms keimendes Genie künstlich zu steigern.
Wie es der böse Zufall wollte, bastelten Mitte der neunziger Jahre Wissenschaftler diverser Universitäten und Institute an der genetischen Struktur der Intelligenz von Mäusen und anderen Kleintieren herum, indem sie die biochemischen
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