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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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Geburt wies sie keines der körperlichen Gebrechen ihres Bruders auf, aber wie sich bald herausstellte, war die Kraft ihres Verstandes geradezu verblüffend. Überdies hatte es vom ersten Augenblick an den Anschein, als würde sie an Schönheit sogar ihre Mutter übertreffen. Larissa schien in jeder Hinsicht die leibhaftige Rechtfertigung aller Risiken zu sein, die ihre Eltern eingegangen waren.
    Natürlich war da die komische Sache mit diesen silbernen Haaren, mit denen Larissa bereits zur Welt gekommen war; aber Stephen Tressalian wollte darin nichts anderes als einen Zufall sehen und betonte die Unterschiede zwischen seinen beiden Kindern statt ihre Ähnlichkeiten.
    »Er hatte nie auch nur einen blassen Schimmer von dem Wichtigsten, was Malcolm und ich gemeinsam hatten«, sagte Larissa, als wir zusammen in meinem Bett lagen. Ja, zusammen: Ihre Geschichte hatte mein Unbehagen über ihre Arbeit als Attentäterin rasch in ein viel tieferes Gefühl als die Verliebtheit verwandelt, die ich bis zu diesem Zeitpunkt empfunden hatte.
    »Und das wäre?«, fragte ich leise, strich ihr über die silbrigen Locken und schaute ihr tief in die ebenholzschwarzen Augen.
    Sie blickte einigermaßen vergnügt zur Decke hinauf. »Wir waren beide ein bisschen verrückt. Ich weiß zumindest nicht, wie ich es anders beschreiben soll.«
    Das kam mir nicht ganz ernst gemeint vor. »Da bin ich sicher«, sagte ich im selben Ton wie sie. »Und deine Eltern haben nie etwas geahnt?«
    »Oh, Mutter schon«, antwortete Larissa. »Während wir sie vergiftet haben, schrie sie die ganze Zeit auf Vater ein, sie wisse, dass wir sie umbrächten und dass wir alle beide wahnsinnig seien.«
    Ich stützte mich auf die Ellbogen und ließ die silberne Haarsträhne los, mit der ich gespielt hatte. »Vergiftet?«
    Aber Larissa schien mich nicht zu hören. »Vater wollte es aber nicht glauben«, fuhr sie fort. »Jedenfalls nicht, bis wir ihn aus dem Flugzeug gestoßen haben. Dann – erst dann – ist ihm klar geworden, glaube ich, dass etwas dran gewesen sein könnte …«

20
    I ch setzte mich im Bett auf. »Wie alt warst du damals?«, war alles, was mir darauf einfiel.
    Larissa verzog das Gesicht wie ein kleines Mädchen. »Ich war elf, als wir uns um Mutter gekümmert haben. Die Sache mit Vater ist etwa ein Jahr später passiert.«
    In meiner Ratlosigkeit verfiel ich in die Rolle des Psychiaters zurück. »Und sind sie – ist das … mit Vorsatz geschehen?«
    Sie sah mich ein wenig unschlüssig an. »Gideon, alles, was Malcolm und ich tun, geschieht mit Vorsatz. Dazu sind wir herangezüchtet worden. Aber wenn du wissen willst, ob wir zu diesen Taten provoziert worden sind, dann lautet die Antwort: Ja, das sind wir.« Sie schaute wieder an die Decke. »Und zwar reichlich.«
    Ohne den Blick von ihr zu wenden, zog ich mich weiter in meine professionelle Objektivität zurück; zugleich ärgerte ich mich deshalb aber auch über mich selbst. »Wie denn zum Beispiel?«, fragte ich.
    Sie warf mir auf einmal ein kleines, richtig glückliches Lächeln zu und zog mich wieder an ihren warmen Körper herunter. »Ich finde es schön, mit dir zu schlafen«, sagte sie. »Vorher war ich mir da nicht so ganz sicher.«
    Ich erwiderte das Lächeln, so gut ich konnte. »Die Fähigkeit, anderen zu schmeicheln, war anscheinend nicht das primäre Ziel deiner gentechnischen Behandlung.«
    »Tut mir Leid.« Sie lachte. »Es ist nur so, dass …«
    »Larissa«, sagte ich und legte ihr einen Finger auf den Mund. »Wenn du mir nichts darüber erzählen willst, brauchst du’s nicht zu tun.«
    Sie nahm meine Hand. »Doch, ich will«, sagte sie schlicht. »Es ist eigentlich nicht sehr kompliziert.« Sie sah wieder an die Decke. »Vater hatte mich dazu herangezüchtet, klüger und hübscher zu sein als Mutter – also hätte ich wohl nicht sonderlich überrascht sein sollen, als er zu dem Schluss gekommen ist, dass er lieber mit mir Sex haben wollte als mit ihr.« Ich zuckte schockiert zusammen, aber Larissa fuhr mit einer Sachlichkeit fort, die bei den Opfern eines solchen Traumas nicht ungewöhnlich ist: »Sie hat mir die Schuld daran gegeben – er schlief mit mir, und dann verprügelte sie mich deswegen. Malcolm hat immer versucht, die beiden daran zu hindern. Aber er war körperlich einfach zu schwach.« Ihre Augen schimmerten; aus ihrem Blick sprachen tiefe Liebe und Bewunderung. »Aber du hättest ihn sehen sollen – er hat mit seinen Krücken nach ihnen geschlagen und ihnen alle

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