Die Tage des Regenbogens (German Edition)
waren wir auf einem Konzert von Los Prisioneros . Ein Konzert im eigentlichen Sinn ist der Auftritt einer Rockgruppe eigentlich nicht, mehr ein Massenauflauf. Diesmal auch eine Massenflucht, denn als wir aus der Lagerhalle in Matucana rausdrängten, erwartete uns vor der Tür eine lange Reihe Einsatzwagen der Polizei.
Zunächst ließen sie uns in Ruhe, aber schon bald verloren die Ersten die Nerven: »Schert euch fort, ihr verdammten Bullen!« Da griffen die Ordnungskräfte zu ihren Schlagstöcken und schlugen auf uns ein, und wir rannten fort. Wir mussten weit laufen, denn kaum erblickten die Besitzer der Bars die Polizei, ließen sie die Rollläden runter, sodass wir überhaupt kein Schlupfloch fanden.
Die Texte von Los Prisioneros sind richtig heavy. Das ist das Tolle an der Rockmusik. Die Songs treffen den Nerv. Als würden einen das Schlagzeug und die E-Gitarre elektrisch aufladen. Man kriegt Lust, aus dem Konzert rauszugehen und Steine auf den Regierungspalast zu schmeißen. Stattdessen trotten wir alle am nächsten Tag mit schweren Köpfen in die Schule und müssen gegen unsere Müdigkeit ankämpfen, um für die letzte Stunde, Geschichte, den Text lesen zu können, über den wir abgefragt werden.
Die Lehrer sind genauso lustlos wie wir, unentwegt schauen sie auf die Uhr und warten nur darauf, dass endlich die Glocke schellt. Sie werden miserabel bezahlt. In Chile gilt ein Lehrer nichts. Das weiß ich von meinem Vater.
Der hier ist mein Lieblingssong von Los Prisioneros :
»Neues Blut braucht die Welt,
rot, zornig und jung.
Adiós, bitteres Jahrzehnt.
Wir sind auf dem Sprung,
die Achtziger sind jetzt am Start.«
Patricia Bettini hört lieber die Platten von ihrem Vater. Beatles und so. Sie kennt alle Texte von Joan Baez und Bob Dylan, und ihrer Meinung nach können wir von neuen Kräften singen, so viel wir wollen, es wird nichts nützen. Pinochet könne man nicht mit Rockmusik stürzen. Aber was will man auch von jemandem erwarten, der einen Pazifisten wie John Lennon verehrt. Sie ist der Meinung, dass niemand gegen Pinochet etwas ausrichten kann, darum will sie nach der Schule nach Florenz.
Dann bin ich abgemeldet, die Italiener sehen verdammt gut aus, kleiden sich wie feine Pinkel und legen beim Friseur eine Million Dollar für einen Haarschnitt hin, und dann spielen sie auch noch Fußball wie die Götter. Zu mir sagt sie, wenn ich sie liebe, soll ich Italienisch lernen.
Italienisch klingt sehr ähnlich wie Spanisch, aber ständig fällt man rein. Zum Beispiel heißt »persecución«, also Verfolgung, nicht einfach »persecuzione« oder so, sondern »seguimento«. Sie hat mir ein paar Bücher geliehen, und was ich verstehe und mir gefällt, unterstreiche ich. Diesen Satz von Dante aus der Göttlichen Komödie zum Beispiel: »Libertà va cercando, ch’é si cara, come sa chi per lei vita rifiuta.« (»All sein Streben ist Freiheit: Was sie wert, das weiß fürwahr, wer für dies Gut, das teure, ließ sein Leben.«)
Señor Santos würde mir den Kopf waschen, wenn er dieses Zitat aus meinem Mund hören würde. Schlaue Reden darf bei uns zu Hause nur er führen. Und ich soll mich sowieso in nichts einmischen. Ich habe mir auch eine Zeile aus einer Canzonetta eingeprägt, mit der ich Patricia Bettini kürzlich eine Liebeserklärung gemacht habe: »Tu sei per me la più bella del mondo.«
Sie wartete auf mich vor der Schule. Kaum hatte sie mich erblickt, zerrte sie mich zu sich und bat mich, sie so fest zu umarmen, wie ich könne. Ich ließ den Schulranzen fallen und zog sie hinter den Hotdogstand, damit uns nicht alle sahen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Wangen glühten, und sie sagte, sie wolle sterben. Da schleppte ich sie ins Indianápolis und sprengte ihr auf der Damentoilette kaltes Wasser ins Gesicht.
Sie war die ganze Strecke von ihrer Schule gerannt.
Am Morgen war ein Hubschrauber über dem Stadtteil Apoquindo gekreist, und auf dem Schulgelände waren ihr einige parkende Autos ohne Nummernschilder aufgefallen.
Dass ihr so etwas auffällt, ist normal, in Chile lernt man, auf solche Dinge zu achten.
Beim Betreten des Schulgebäudes begegnete ihr Señor Paredes, sie begrüßte ihn wie immer herzlich, als auf einmal drei Zivilpolizisten aus einem der Autos stiegen, den Mann packten und ihn in den Wagen zerren wollten. Der Schuldirektor wollte das verhindern, aber sie schlugen ihn, schleuderten ihn auf den Boden und rauschten mit dem entführten Paredes ab.
Seitdem hat sie nicht mehr
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